Eine kritische Würdigung von Christian Neidhart
Rot-Weiss Essen ist aufgestiegen und in 36 der 38 Saisonspiele war Christian Neidhart als Cheftrainer verantwortlich für die RWE-Mannschaft. Dennoch ist er bekanntlich schon knapp zwei Wochen fort. Christian Neidhart kam aus der rauen Schönheit des Emslandes aus Meppen in die Reviermetropole nach Essen und hatte den auch von ihm bei Amtsantritt selbst klar formulierten Auftrag, seinen Arbeitgeber RWE endlich in die dritte Liga und damit in den Profifußball zurückzuführen. Neidhart brach mit RWE daraufhin knapp zwei Spielzeiten lang alle Rekorde. Und wurde dennoch zwei Spieltage vor Saisonschluss von seinen Aufgaben entbunden. Kaum zu glauben. Die Vita von Christian Neidhart bei Rot-Weiss Essen und die Spurensuche für die Gründe der Trennung sind facettenreich.
Neidharts Statistiken
Was Christian Neidhart in Sachen Punkteschnitt, Sieges- und Unbesiegtserien hinlegte, schaffte kein Trainer in Essen vor ihm und in dieser Hinsicht wird sich auch sein Nachfolger strecken müssen. In 75 Spielen der Regionalliga West führte der gebürtige Braunschweiger Regie an Essens Seitenlinie, ein weiteres Match war die „Böllerwurfpartie“ gegen Preußen Münster im Februar 2022, die bekanntlich nicht zu Ende gespielt werden konnte und für RWE am grünen Tisch verloren ging. Bei Abbruch stand es 1:1, es wären noch gut 15 Minuten zu spielen gewesen und an der Seitenlinie befand sich Neidharts Assistent Lars Fleischer, weil der Chefcoach selber in Corona-Quarantäne weilte. Da diese Partie keine sportliche Bewertung fand, ist sie aus den folgenden beeindruckend zu nennenden Zahlen daher exkludiert worden.
So lautet Neidharts Ligabilanz aus den Spielzeiten 2020/21 und 2021/22 folgendermaßen:
75 Spiele – 171 Punkte – 51 Siege – 18 Unentschieden – 6 Niederlagen – 169:60 Tore – Differenz + 109 – Punkteschnitt 2,28
Das ist sagenhaft zu nennen. Zudem war Neidhart in seinen ersten 28 Pflichtspielen (22 in der Liga, 3 im DFB-Pokal, drei im Niederrheinpokal) nicht zu besiegen. Nicht einmal von der Millionariotruppe von Bayer Leverkusen, die RWE nach Erfolgen gegen Bielefeld und Düsseldorf im Achtelfinale des DFB-Pokals mit 2:1 nach Verlängerung aus dem Wettbewerb warf und ins Viertelfinale einzog. Der größte Vereinserfolg seit 1994, wo man sogar im Endspiel gestanden hatte. Es schien zwischenzeitlich so, als hätte Essen unter Neidhart das Verlieren verlernt. So auch in der zweiten Saison, als Essen 24 Ligaspiele in Folge nicht als sportlicher Verlierer das Feld verlassen musste. Das passierte unter CN insgesamt in der Regionalliga West statistisch ohnehin nur alle 12,5 Spiele. RWE war nicht nur schwer zu besiegen, es war generell schwer, gegen RWE nicht als Verlierer das Feld zu verlassen. Neidharts Siegquote in der Liga lag bei 68 %, zudem schaffte er gleich zweimal 6 Siege mit RWE in Serie und einmal 7 Dreier in Folge. Zuletzt war Rot-Weiss da im Jahr 2004 mit 9 Erfolgen am Stück erfolgreicher gewesen. Fazit, Christian Neidhart setzte fast auf allen Feldern statistische Bestmarken für die Vereinsgeschichte. Das belegt eindrucksvoll, dass der 51-Jährige sein Handwerk versteht und nicht zu Unrecht nach Essen geholt worden ist. Wie konnte er dann überhaupt am Ende nicht als RWE-Kapitän mit dem rot-weissen Dampfer in den Aufstiegshafen einlaufen?
Neidharts Stärken und Schwächen
Fernab der nackten Zahlen wird es nun komplexer, wenn schlüssige Antworten auf die zuvor gestellte Frage gefunden werden sollen. Wer so viele Punkte, Siege und Serien holt wie Christian Neidhart, muss über Qualitäten verfolgen. Die besitzt Christian Neidhart auch. Neben klaren Vorstellungen über die taktische Ausrichtung, die ballbesitzorientierten Fußball vorsah, war Neidhart kooperativ, hatte immer ein Ohr für die Verantwortlichen und hielt nicht starr an einer Linie fest. In der zweiten Spielzeit unter ihm wurde deutlich daran gearbeitet, das offensive Umschaltspiel zu beleben, was vor allem zu Saisonbeginn sehr gut gelang und RWE wirkte flexibler und sogar noch spielstärker als im Vorjahr. Und die Neidhart-Elf bestand auch häufig siegreich in den Spitzenspielen, zuvor jahrelang ein Manko der Essener. Sportlich war Essen von keinem der Aufstiegskonkurrenten zu besiegen, Münster schaffte es am grünen Tisch, was Neidhart nicht anzulasten war.
Aus den Statistiken hatten wir diese Partie gegen Preußen Münster herausgenommen, die Gründe wurden genannt. Neidhart stand nicht einmal selber an der Seitenlinie und dennoch ist dieses durch Verschulden eines hirnlosen Dummkopfs verlorene Spiel einer der Schlüssel zum Verständnis eines nachfolgenden Abwärtstrends. Das Urteil des Verbandsgerichts musste RWE zähneknirschend hinnehmen, das fiel ganz besonders Christian Neidhart ausgesprochen schwer. Der Trainer und seine Mannschaft hatten das Resultat nicht verschuldet, aber sie wurden zu den Hauptleidtragenden. Die empfundene Ungerechtigkeit nagte sehr schwer an Christian Neidhart.
Als Essen nur kurze Zeit später in eine Coronazwangspause gehen musste, weil der halbe Kader infiziert oder in Quarantäne war, ruhte der Trainings-und Spielbetrieb für zweieinhalb Wochen. Aus diesem Intermezzo kam RWE mit nun stotterndem Motor zurück. In den folgenden 8 Partien holte Rot-Weiss nur 13 Punkte, weit unterdurchschnittlich gemessen an den vorherigen Daten. So schmolz der komfortable Vorsprung auf Preußen Münster, der selbst nach dem Böllerurteil zeitweilig 5 Punkte betragen hatte, und verwandelte sich in einen Rückstand von zwei Zählern.
Essen verspielte gleich in vier Partien einen Vorsprung, besonders bitter das 1:1 gegen die Zweite Mannschaft von Borussia Mönchengladbach, als RWE sich vor heimischer Kulisse kurz vor dem Ende nach schwacher Leistung den Ausgleich fing. An diesem Tag hätte man die Chance gehabt, das Stolpern von Preußen Münster in Lippstadt auszunutzen und nach Punkten wieder gleichzuziehen. Wie das Münster-Urteil so traf auch die Coronapause Christian Neidhart ins Herz. Die für seine Ära weit überdurchschnittlich zu nennenden Punktverluste in dieser Phase erschütterten den metaphorischen Glauben des Essener Cheftrainers an den Fußballgott. Denn natürlich sah Neidhart sein Team nun nicht auf der Höhe seines eigentlichen Leistungsvermögens und wie beim Böllerurteil lag es nicht in seiner Verantwortung, dass RWE wertvollen Boden verloren hatte.
Die Essener Verantwortlichen hatten ab nun den Eindruck, nicht mehr 100% Christian Neidhart an Bord zu haben. Der Coach wirkte in gewisser Weise ausgebrannt, zeigte nicht mehr den notwendigen Biss und entschiedenes Gegensteuern. Zu sehr Lamento wegen der Ungerechtigkeiten der Fußball-Welt prägte Neidharts Auftreten und versetzte auch seine Mannschaft zeitweise in Lethargie. Von daher kamen auch Punktverluste hinzu, die Essens eigener Verantwortung geschuldet waren. Ein gewisser Hang der RWE-Elf, Führungen zu verwalten und über die Runden spielen zu wollen, monierten Fans zuvor bereits häufiger.
Die Art und Weise, wie Rot-Weiss sich aber beispielsweise am Aachener Tivoli die Siegesbutter vom Brot nehmen oder in Oberhausen eine Vielzahl klarster Torgelegenheiten ungenutzt ließ, sorgte für Unzufriedenheit, die nach dem bereits angesprochenen 1:1 gegen Gladbach II in harte Krisenstimmung mündete. Die RWE-Führung wollte es sich aber an dieser Stelle nicht einfach machen und den Trainer, nun einmal das schwächste Glied in der Kette, einfach von seinen Aufgaben entbinden. In langen Einzelgesprächen mit der Mannschaft, aber auch mit Christian Neidhart selber, sollte eine Wende in die Wege geleitet werden. Wie schon häufig zuvor, hatte der Coach ein offenes Ohr und gelobte auch für sich selbst Besserung und mehr Biss. Die Mannschaft und die als solche angesehenen Führungsspieler sollten zudem deutlich mehr in die Verantwortung genommen werden. Die Maßnahmen griffen.
Die drei folgenden Ligaspiele gewann Essen dann mit starker Leistung 4:0 gegen Lippstadt, mit immer noch guter Leistung 3:0 in Lotte und mit bereits weniger gutem Auftreten mit 3:1 gegen Wegberg-Beeck, tabellarisch machte man aber keinen Boden gut. Das Pokalaus beim Wuppertaler SV und dabei insbesondere der Essener Auftritt führten dazu, dass dann doch noch die Notbremse gezogen und Neidhart nur zwei Tage vor dem wichtigen Ligaspiel gegen Rödinghausen weichen musste. Beim Spiel in Wuppertal machte seine Mannschaft nahezu den Eindruck, ihrem Trainer die Gefolgschaft zu verweigern. RWE tat wenig, viel zu wenig, um das Prestigeduell für sich zu entscheiden.
Möglicherweise hatte sich in den Köpfen der Akteure auch festgesetzt, nicht wie im Vorjahr durch volle Pulle im Niederrheinpokal die Meisterschaft und damit den Aufstieg zu vergeigen. Zum Ende der Spielzeit 2020/21 trat RWE zuhause im Halbfinale des NR-Pokals gegen den SV Straelen an. In Bestbesetzung musste Essen über 120 Minuten gehen und setzte dann das Elfmeterschießen in den Sand. Dieser Substanzverlust war nicht unwahrscheinlich zumindest mitverantwortlich für die folgende 1:2 Ligaschlappe bei der Kölner Zweitvertretung, die RWE entscheidenden Boden auf den BVB II kostete.
In Wuppertal machte man es dann auch kräfteschonender und die wieder in vermeintlicher Bestbesetzung aufs Feld geschickte Rot-Weiss Mannschaft wollte wenige Tage vor dem eminent wichtigen Ligaspiel gegen Rödinghausen die körperlichen Ressourcen nun zusammenhalten. Das kostete den Verein viel Geld, denn damit war die Qualifikation für den DFB-Pokal vergeigt, und es war ein Affront gegenüber Christian Neidhart, der auch eine B-Elf aufs Feld hätte schicken können, die dann kaum schlechter abgeschnitten hätte. Es schien, als habe die RWE-Mannschaft sich in dieser Situation selbst gesteuert und den Fokus eindeutig auf die Liga gelegt.
Im Grunde war der Coach aber bereits nach dem Spiel gegen Gladbach II in gewisser Weise entmachtet und damit auch gegenüber der Mannschaft an Argumenten und Autorität beraubt. Kaum war er von seinen Aufgaben entbunden, war die RWE-Elf plötzlich wieder on Fire und trat in Lotte unter dem Interimsgespann NoWag gegen Rödinghausen wie ausgewechselt auf und setzte ein vorentscheidenes Aufstiegssignal. Vor allem die Ansprache von Vincent Wagner vor dem Spiel in der Kabine traf beim RWE-Team offenbar den richtigen Nerv. Den Nerv, den Christian Neidhart nicht mehr so gut zu treffen wusste. Fußball ist halt nicht unwesentlich eine Kopfsache. Wenn ein Spieler wie Felix Herzenbruch die Entlassung des Trainers quasi mit der Aussage rechtfertigt, dass man ansonsten wieder in seine alten Abläufe zurückgefallen wäre, sagt das viel aus.
Gewisse Abnutzungserscheinungen waren da und weder im Training noch bei der Mannschaftsaufstellung kamen von Christian Neidhart noch wesentliche Impulse. Herze drückte damit das aus, was auch Essens sportliche Verantwortliche festgestellt hatten, dass RWE nach Phasen der positiven Umstellungen unter dem Trainer zu häufig in alte Muster zurückfiel. Viele RWE-Fans sind diesbezüglich natürlich auch nicht ganz zu Unrecht sauer auf die eigene Mannschaft. Hat sie ihren Trainer im Stich gelassen und den Aufstieg wissentlich riskiert? Schwer zu sagen, aber doch eher unwahrscheinlich. Es handelte sich nicht um ein bewusstes Gegensteuern der Spieler, sondern eher um einen langsamen Entfremdungsprozess von Neidhart. Wie kam dieser ins Rollen, nachdem man zuvor gemeinsam so viele Erfolge eingefahren hatte?
RWE hatte Neidhart auch nach Essen geholt, weil man sich von ihm klare Qualitäten bei der Führung der Kabine erhoffte. Das gelang ihm auch über nicht unerhebliche Teile seiner Essener Zeit. Die Führungsqualitäten gerieten jedoch ins Wanken, wenn der Essener Cheftrainer in unangenehme Situationen mit seinen Spielern kam. Und davon gab es dann doch die ein oder andere. Allein in dieser Spielzeit gab es nennenswerte und bekannte Konflikte mit gleich zwei eigentlichen Führungsspielern und Trägern der Kapitänsbinde. So trug Neidhart die Entscheidung, Dennis Grote nach seinem Münster-Flirt zu suspendieren, gegenüber der Vereinsführung zwar mit, tat sich aber enorm schwer, das auch dem Spieler so eindeutig zu vermitteln. Zudem muss Grotes Verhalten auch in den Augen des Trainers, der in ihm seinen Kapitän und Quarterback gesehen hatte, eine enorme persönliche Enttäuschung gewesen sein.
Eine Causa, die sich dann im Fall von Daniel Davari wiederholen sollte und dem Coach akute Magenschmerzen bereitete. Klare Kommunikation ist offenbar nicht die Stärke des gebürtigen Braunschweigers. So hatte Neidhart unmittelbar nach dem Ahlen-Spiel, als herbe öffentliche Kritik auf Daniel Davari herab prasselte, noch betont weder eine Torwartdiskussion führen noch Einzelkritik üben zu wollen. Dann jedoch machte er Daniel Heber fast im selben Atemzug öffentlich dafür verantwortlich, einen unnötigen Eckball, der dann zum Tor führte, verschuldet zu haben. Nicht gerade elegant, einen Spieler schützen zu wollen, indem man dann einen anderen kritisiert. Und obwohl keine Torwartdiskussion geführt werden sollte und Davari danach noch in Wiedenbrück ran durfte, stand dann plötzlich Jakob Golz als neue Nummer Eins im Tor. Sportlich war das eine völlig richtige Entscheidung, die aber falsch kommuniziert und vermittelt wurde, weswegen auch der Rückhalt im Kader schwand.
Christian Neidhart kam mental im kleinen Haifischbecken Hafenstraße zum Schluss an seine Grenzen und war diesbezüglich zuvor im familiären Meppen nicht so häufig auf die Probe gestellt worden. Seine gewisse Konfliktscheue führte auch dazu, dass der Coach in erster Linie auf ältere und erfahrene Spieler setzte, die ihn dann, siehe Grote und Davari, hängen ließen. Den jungen Akteuren hingegen wurde weniger Spielzeit offeriert. So tropfte das Fass langsam voll und lief irgendwann über.
Neidharts Vermächtnis
Seine Entlassung nahm Neidhart zwar als bitter wahr, er zeigte aber menschliche Größe. Er glaubt zwar selbst, dass es auch mit ihm in den letzten beiden Spielen gelungen wäre, aber das führte nicht zum Nachkarten. Kein böses Wort über die Verantwortlichen fiel und seiner Mannschaft wünschte er ganz viel Glück für den Aufstiegskampf, der letztlich dann doch in einem großen Triumph enden sollte. Neidhart wurde nach seinen eigenen Aussagen von der deutlichen Mehrheit seines Kaders nach dem Ahlen-Spiel kontaktiert und erhielt positive Zuwendung. Es zeigte sich, dass die Mannschaft durchaus wusste, was ihr Coach unter dem Strich geleistet hatte.
CN wurde nun übrigens auch auch Mallorca gesichtet, wo seine Aufsteiger bekanntlich gemeinsam feierten. Marcus Uhlig wiederum, ein Zeichen der persönlichen Wertschätzung, lud Neidhart zum Ahlen Spiel ein, dieser wollte aber durch seine Anwesenheit keine Unruhe aufkommen lassen. Auch das spricht für die menschlichen Qualitäten des gebürtigen Braunschweigers, der ein Jahr zuvor, auch das sollte nicht vergessen werden, eine Offerte der Eintracht aus seiner Heimatstadt ablehnte, um den Weg mit RWE weiterzugehen.
Christian Neidhart ist ein Trainer gewesen, den wir nicht so schnell und wahrscheinlich sogar nie vergessen werden. Er ist der Halter der Rekorde, ein offenbar wirklich feiner Mensch und er hat einen wahrhaft wesentlichen Beitrag zum Aufstieg von Rot-Weiss Essen zurück in den Profifußball geleistet, auch wenn er die letzte Ernte nicht mehr persönlich einfahren durfte. Die Hoffnung auf einen RWE-Trainer, mit dem der Verein eine ganze Ära gestalten kann, erfüllten sich mit Christian Neidhart zwar nicht. Er hat jedoch womöglich eine erfolgreiche Ära eingeleitet und angestoßen, denn das Nadelöhr Regionalliga West hat unser Verein unter CN nun endlich durchschritten. Sein Vertrag hat sich durch den Aufstieg übrigens verlängert, auch wenn er natürlich trotzdem nicht mehr für RWE arbeiten wird. So darf sich Neidhart auch monetär freuen. Verdient hat er es sich jedenfalls.
Mach es gut, Christian Neidhart und Danke für zwei tolle Jahre mit Rot-Weiss Essen!
Sven Meyering