Kapitel III: Wrobels Ende, Faschers Fluch und das Pulverfass Hafenstraße
Nur vier Tage nach der Niederlage im Spitzenspiel gegen Fortuna Köln kam es im Stadion Essen zum Stadtderby gegen den designierten Absteiger FC Kray, der einer müden rot-weissen Elf ein 0:0 abringen konnte. Die Quittung: Ein gellendes Pfeifkonzert der Anhängerschaft, die noch gegen Fortuna Köln aufmunternden Applaus gespendet hatte. In den verbliebenen Spielen der Saison 2012/2013 standen wenigen Highlights – wie dem erneuten Sieg über Viktoria Köln (4:0) und die in dieser Saison sehr starke blaue Zweitvertretung (1:0) – böse Niederlagen in Hüls (0:5), bei Duisburg II (0:2), am Familientag daheim gegen Gladbach II (1:6), im Niederrheinpokal-Viertelfinale bei Oberligist Hönnepel-Niedermörmter (1:2) und daheim gegen den insolventen WSV (1:2) gegenüber.
Passenderweise ging es zum letzten Auswärtsspiel der Saison nach Lotte, wo RWE seit der Wettaffäre kein gern gesehener Gast mehr war. Die Giftpfeile vom Autobahnkreuz veranlassten die mitgereisten RWE-Anhänger, trotz Niederlage ausgiebiger zu feiern, als das Heim-Team, das mit dem 1:0-Erfolg soeben die Regionalliga-Meisterschaft errungen hatte. Mit viel Geld von Gönner Manfred Wilke hatte sich Lotte vom sympathischen Dorfclub zum neureichen Liga-Primus verwandelt und musste sich von den Gästefans zeigen lassen, wie eine anständige Party aussieht – der RWE-Anhang rief nämlich fortan die Spiele in Lotte, trotz der jährlich wiederkehrenden sportlichen Bedeutungslosigkeit, zur Meisterfeier aus. Dazu gehörte die Intonation der Nationalhymne zum Text „Deutscher Meister, Deutscher Meister, Deutscher Meister, RWE!“ sowie das Besingen des anstehenden Europapokals. Gegen die stimmgewaltigen, die eigenen Feierlichkeiten übertönenden Rot-Weissen half Tante Lotte nicht mal das Ausschalten der Stadionbeleuchtung und nach verpatzter Relegation musste Lotte die Asis aus dem Kohlenpott noch zwei Jahre ertragen, ehe temporär die Flucht in die Dritte Liga gelang.
Durch einen Sieg zum Abschluss über die Sportfreunde Siegen beendete RWE die Saison versöhnlich auf Platz 4 – eine erneute Steigerung zur Vorsaison. Doch Fans und Verantwortliche waren sich angesichts der Leistungsschwankungen einig, dass die junge und technisch versierte Truppe ein paar erfahrene Drecksäcke benötige, um endlich um den Aufstieg mitspielen zu können. Kerim Avci konnte nach seiner starken Saison nicht gehalten werden, doch mit Benjamin Wingerter, dem 6er der Lotter Meistermannschaft und Alexander Langlitz (sogar mit einem Spiel Europapokalerfahrung) wurden echte Königstransfers an Land gezogen. Der in Gladbach zum Goalgetter gereifte Marcel Platzek kehrte an seine Ausbildungsstätte zurück und gegen den Widerstand aus dem eigenen Fan-Lager wurde Regionalliga-Knipser Christian Knappmann verpflichtet, der dem rot-weissen Anhang noch im Trikot des WSV den Mittelfinger gezeigt hatte.
War ein Jahr zuvor noch der sympathische aber in der Regionalliga überforderte Fan-Liebling Leon Enzmann – mit dem legendären ‚Heute wird gesoffen bis der Enzmann trifft‘ auch musikalisch verewigt – durch Marvin Ellmann ersetzt worden, musste dieser nun dem Unsympathen Knappmann weichen. Mit den Verpflichtungen hatte Wrobel selbst die Marschroute vorgegeben und den bedingungslosen sportlichen Erfolg über alle Sentimentalitäten gestellt. Aus der beliebten Aufstiegsmannschaft waren nur noch Wagner, Lemke und Koep übrig – eine Platzierung unterhalb der Vorsaison war für die Anhängerschaft indiskutabel.
Den ersten Wirkungstreffer kassierte RWE bereits in der Saisonvorbereitung. Zur Einweihung der vierten Tribüne gab sich Werder Bremen im Freundschaftsspiel die Ehre und Cebio Soukou, unter Wrobel in der Vorsaison zum Top-Spieler gereift, riss sich nach wenigen Minuten das Kreuzband. Der Saisonauftakt gegen Top-Favorit Viktoria Köln fiel dann buchstäblich ins Wasser, da das Stadion nach einem Rohrbruch kurz vor dem ersten Ligaspiel schwere Schäden davongetragen hatte. Das Duell in Wiedenbrück an Spieltag 2 war aufgrund der DFB-Pokal-Teilnahme der Ostwestfalen auch verschoben worden, sodass RWE der Konkurrenz zunächst machtlos beim Punktesammeln zusehen musste. Stattdessen folgte der Einstieg am dritten Spieltag daheim gegen die Leverkusener Reserve, die zum Schrecken aller durch ihren Zehner Luca Dürholtz in Führung ging und sogar das zweite Tor nachlegen konnte. Neuzugang Knappmann verschoss zum Einstand direkt einen Elfmeter, erzielte bei der anschließenden Aufholjagd allerdings den 2:2-Ausgleich.
Im Nachholspiel gegen Viktoria Köln stand RWE daher direkt unter Druck, verschoss beim Stand von 1:1 zehn Minuten vor Ende wieder einen Elfmeter, kassierte durch Wunderlich das 1:2 und verzweifelte an Raphael Koczors Zeitspielorgie (inklusive Platzverweis und Rekord-Bierdusche). Als im dritten Saisonspiel in Düsseldorf nach 2:0-Führung noch 3:4 verloren wurde, hingen erstmals wütende RWE-Fans auf dem Zaun des Gästeblocks und forderten den Kopf von Aufstiegstrainer Wrobel.
Im Anschluss an Siege gegen Aachen und Wiedenbrück gab es eine Niederlage in Oberhausen und ein Remis gegen den KFC Uerdingen, RWE schaffte es nicht, sich aus dem Mittelfeld nach vorne zu arbeiten und verlor früh den Anschluss an die Tabellenspitze. Einem knappen Sieg in Velbert folgte das dienstags live auf Sport1 übertragene Derby gegen die SG Wattenscheid 09, gespickt mit den aussortierten Aufstiegshelden Thamm, Enzmann, Lenz und Lehmann. Die Führung der Gäste ausgerechnet durch Thamm war der Startschuss für lautstarke ‚Wrobel raus!‘-Rufe, Knappmann verschoss mal wieder einen Elfmeter, RWE holte nach 0:2 noch einen Punkt, doch die Saison war gelaufen.
Zwei Spieltage später zerlegte der spätere Aufsteiger Fortuna Köln RWE im heimischen Stadion mit 0:4 und Fans und Verantwortliche mussten einsehen, dass RWE Lichtjahre von einer Spitzenmannschaft entfernt war. Trotz der Packung gab es 90 Minuten lang tolle Unterstützung von den Rängen, die im wohlbekannten ‚Marmor, Stein und Eisen bricht…‘ mündete.
Wingerter und Knappmann waren über ihren Zenit und der als Rechtsverteidiger aufgebotene Langlitz hatte massive Defizite in der Defensivarbeit. Die Königstransfers hatten nicht gezündet und wenn schon nicht der Trainer flog, dann sollte Michael Welling wenigstens endlich jemanden mit Fußballsachverstand für die Führungsetage verpflichten. Heraus kam Uwe Harttgen, der als knallharter Reformer den Aufstieg ermöglichen sollte und als Vorstand Sport mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet wurde.
Waldemar Wrobel schaffte es auch in den folgenden Monaten nicht, RWE aus dem Mittelmaß herauszuführen und wurde etwas mehr als dreieinhalb Jahre nach Amtsantritt als Trainer der ersten Mannschaft entlassen. Der Zeitpunkt – nach einem 4:0-Erfolg über Velbert – war dabei durchaus überraschend und Wrobel zeigte sich ob der Kommunikation des neuen starken Mannes Harttgen verstimmt, schließlich erfuhr er im Auto telefonisch durch die Presse von seiner Entlassung, nachdem er gerade den kommenden Gegner Wattenscheid 09 beobachtet hatte.
Harttgen zauberte den alten Münsteraner Aufstiegstrainer Marc Fascher aus dem Hut, der sich direkt mit drei Niederlagen einfügte und die Saison nach einer soliden Restserie auf einem enttäuschenden neunten Platz abschloss. Zuvor scheiterte er noch im Halbfinale des Niederrheinpokals am MSV Duisburg – die Niederlage im Elfmeterschießen konnten jedoch nur die 20.000 Fans vor Ort miterleben, da Sport1 sich dazu entschied, die Übertragung nach einem geöffneten Tor, etwas Pyrotechnik und einem Aufmarsch von zwei Polizeihundertschaften abzubrechen.
War die Hafenstraße nach den kuscheligen Post-Insolvenz-Jahren nicht zuletzt durch Waldemar Wrobels rigorosen Kaderumbau bereits in der abgelaufenen Saison wieder zu einem rauhen Pflaster geworden, trieben es Harttgen und Fascher auf die Spitze und verwandelten RWE wieder in das altbekannte Pulverfass. Aufstiegsheld und Identifikationsfigur Vincent Wagner wurde vom Hof gejagt und mit ihm fast die ganze Mannschaft. Harttgen kaufte ein völlig neues Team ein, meldete die bis dahin mühsam aufgebaute U23 vom Spielbetrieb ab und erteilte dem traditionellen Angrillen wie so ziemlich allen Fanbelangen eine klare Absage. Es war kühl geworden an der Hafenstraße und Fascher war von Spieltag 1 an zum Siegen verdammt.
Neun Punkte aus fünf Spielen (2 Siege, 3 Unentschieden) bedeuteten schon keinen optimalen Start, doch am sechsten Spieltag kam der FC Kray ins Stadion Essen und schoss RWE mit 4:2 ab. Der Mannschaft schlug eine regelrechte Hasstirade von den Rängen entgegen, nicht nur von den sogenannten ‚Wrobelisten‘ – das Absägen Wrobels hatte bei einem beachtlichen Teil der Fans dafür gesorgt, dass Harttgen und Fascher ohnehin noch kritischer beäugt wurden. Als nach 2 weiteren Unentschieden am 9. Spieltag der ungeschlagene Tabellenführer Viktoria Köln zu Gast war und mit 1:0 in Führung ging, schien die Saison angesichts virtueller 15 Punkte Rückstand in der Live-Tabelle gelaufen. Durch einen späten Doppelschlag entschied RWE das Spiel aber völlig überraschend für sich, siegte durch das ‚Kacktor des Monats‘ auch am folgenden Spieltag in Rödinghausen (0:1) und blieb anschließend bis zur Winterpause ungeschlagen. Besonders die Defensive war zu Faschers Prunkstück geworden und da Viktoria Köln kein Bein mehr auf den Boden bekam, fand sich RWE plötzlich in einem Zweikampf mit Alemannia Aachen wieder.
Die Winterpause hielt jedoch mal wieder einen Tiefschlag der besonderen Art parat, natürlich im Rahmen eines Auswärtsspiels in Lotte. Sportlich hatte RWE durch das 1:1 einen Punkt geholt. Da aber Cebio Soukou – nach auskuriertem Kreuzbandriss mittlerweile der Dreh- und Angelpunkt der Essener Offensive – Nahrungsergänzungsmittel aus den Untiefen des WWW geordert und konsumiert hatte, lag beim Verband plötzlich eine positive Doping-Probe vor. Das Spiel wurde 0:2 gegen RWE gewertet und Soukou für fünf Monate gesperrt.
Direkt nach der Winterpause stand das absolute Topspiel auf dem Aachener Tivoli an: 30.000 Zuschauer – darunter 6000 Essener – sorgten für eine Rekordkulisse. Das „Champions League Finale des kleinen Mannes“ (11Freunde) zog die nationale Berichterstattung auf sich und ging mit 1:0 an die Alemannia. Dieses Ergebnis sollte nach der Winterpause zum neuen Fascher-Standard werden und – inklusive Aachen – sechs Mal in Folge nach Abpfiff auf der Anzeigetafel stehen. Leider nur zweimal für RWE!
Direkt nach Aachen konnte die Reserve des VfL Bochum besiegt werden, das 0:1 in Oberhausen war dann bereits ein herber Dämpfer, doch das Fass zum Überlaufen brachte eine erneute Niederlage gegen den FC Kray im Stadion Essen, obwohl Magier Harttgen per Klausel den nach Kray gewechselten Wingerter und Limbasan einen Einsatz untersagt hatte. Die dritte Rückrundenniederlage brachte das Pulverfass zum Explodieren und Marc Fascher sprach während der Krise von einem Fluch, der in Folge der Dopingaffäre auf RWE lastete.
Die höheren Mächte bescherten ihm anschließend auch eine Niederlage bei der Zweitvertretung Borussia Mönchengladbachs, kurioserweise aber auch eine Vertragsverlängerung gegen den Willen des Aufsichtsrats. Dieser erneute Alleingang war Harttgens letzte Amtshandlung vor seiner Entlassung – bei der späteren Verhandlung vor dem Arbeitsgericht bescherte ihm der Grund seines Nichterscheinens den Beinamen ‚Dünnschiss-Uwe‘, ehe er bis zu diesem Rückblick zum Glück in Vergessenheit geriet.
Für Marc Fascher gab es noch ein kurzes Durchatmen mit vier Punkten aus zwei Spielen, bevor ein 0:3 zuhause gegen Rödinghausen sein Schicksal besiegelte. Die nicht nur verbal hochaggressive Stimmung im Stadion Essen äußerte sich durch einen versuchten Platzsturm gegen Spielende. Jürgen Lucas und Markus Reiter übernahmen interimsweise auf der Bank, die Saison war ohnehin mal wieder gelaufen. Aus den letzten 7 Liga-Spielen gab es vier Siege und drei Niederlagen, darunter mit dem 1:3 zuhause gegen den abgeschlagenen Tabellenletzten Hennef einen neuen Tiefpunkt. Im Niederrheinpokal-Halbfinale konnte im dritten Anlauf der Saison endlich der FC Kray im Halbfinale besiegt werden, doch passend zur Katastrophenrückrunde eskalierte die interne Fanauseinandersetzeung auf der Westtribüne und resultierte wenig später in der Auflösung der mittlerweile 13 Jahre bestehenden „Ultras Essen“.
Der Finalsieg im Elfmeterschießen daheim gegen Rot-Weiß Oberhausen brachte immerhin einen versöhnlichen Abschluss der Saison 2014/2015, die in der Liga mit Platz 5 und 13 Punkten Rückstand auf Meister Gladbach endete. Nicht nur sportlich hatten Harttgen und Fascher jede Menge verbrannte Erde hinterlassen – die vierte Saison nach Wiederaufstieg in die Regionalliga resultierte in einer besorgniserregenden Entfremdung zwischen Mannschaft, Vereinsverantwortlichen und Fans…