Am Freitagabend herrschte nach dem Schlusspfiff die große Irritation, dann die große Wut. Die erstmals in dieser Saison siegreiche RWE-Mannschaft bedankte sich höflich bei allen Tribünen, die zuvor einen fantastischen Support geleistet hatten, und ging dann zunächst in die Kabine. Begleitet von wütenden Pfeifkonzerten der Westtribüne. Die Fankurve hatte sich auf ein großes Fest mit ihrer Mannschaft gefreut. Dieses blieb aus. Hintergrund, die unrühmlichen Vorfälle auf einem Rastplatz in Hessen während der Rückfahrt vom Auswärtsspiel in Bayreuth. Der Essener Mannschaftsbus stand ebenfalls auf diesem Rastplatz und das Team wurde Zeuge davon, wie maskierte Angehörige eines Essener Fanclubs die Insassen eines anderen aus dem Bus zerrten und vorsichtig gesprochen, sehr unsanft bearbeiteten. Der offizielle Hintergrund, die Opfer der Attacke würden das Sangesgut der anderen sie attackierenden Gruppe nicht richtig mittragen. Kaum zu fassen, so etwas.
Die RWE-Mannschaft war geschockt. In ihr reifte der Entschluss, nach dem Heimspiel gegen Erzgebirge Aue nicht zur feierseligen Tagesordnung übergehen zu wollen. Während des Spiels zelebrierte man seine beiden Treffer mit den Fantribünen. Beim 2:1 fanden Felix Götze und Lawrence Ennali die Muße, die begeistert mitgehenden Balljungen abzuklatschen und zu herzen. Nach dem Schlusspfiff wurde es kühler. Die Aktion ist bekannt, das Echo vielstimmig.
Es gibt dabei drei Fraktionen unter den Kommentatoren. Die erste Fraktion, die das Zeichen, das die Mannschaft gegen Gewalt in der eigenen Fanszene setzen wollte, vollkommen teilt. Zweitens die Fraktion, die das Zeichen ebenfalls teilt, aber an dessen Durchführung und der Kommunikation durchaus etwas auszusetzen hat. Drittens die Fraktion, die sich von der Mannschaft verprellt fühlt, da sie mit den Vorfällen, die thematisiert werden sollten, nichts zu tun hat und nicht zu Unrecht darauf verweist, seit Wochen bedingungslos hinter dem Team, das teilweise einen schönen Scheiß gespielt hatte, gestanden zu haben.
Mittlerweile ist viel geschrieben und kommentiert worden. Je mehr über die Hintergründe bekannt geworden ist, desto größer wurde im Allgemeinen das Verständnis für das Handeln der Mannschaft. Diese stellte sich einige Minuten nach dem Gang in die Kabine dann durchaus noch der Westtribüne, Kapitän Daniel Heber, Felix Herzenbruch, Niklas Tarnat und Felix Bastians in vorderster Front, dazu auch noch Jörn Nowak und Raphael Koczor. Nun redete man also mit der immer noch sehr aufgebrachten Menge. Das hätte man vorher besser auch tun oder die Aktion anders kommunizieren sollen. Viele Kommentatoren haben es bereits formuliert, eine Stadiondurchsage hätte aufklären können, ebenso ein Transpi der Mannschaft. Mangelnde Kommunikation ist somit das Kardinalthema. Das weiß man auch bei RWE. Zu betonen ist noch einmal, es wurde nichts von oben verordnet, das Team kam aus freien Stücken auf diese Idee, wohl aber hätten die eingeweihten RWE-Verantwortlichen die Mannschaft ein wenig besser beraten können, wie man die geplante Message anders und besser hätte platzieren können. In diesem Sinne ist Schweigen Silber und Reden ist Gold. So kam am Montagabend dann auch die entsprechende Stellungnahme der RWE-Mannschaft, die für Transparenz sorgen soll und gemachte Fehler eingesteht.
Wer würde den inhaltlichen Aussagen nicht zustimmen wollen? Kurz nach Veröffentlichung erfreute sich das Statement bereits hoher Zustimmung und vieler positiver Kommentare. Es ist immens wichtig, um die Dinge richtig einzuordnen. In den Medien wurde zuvor viel von einer unnötigen Baustelle, die die RWE-Mannschaft aufgemacht habe, geschrieben. Anstatt einfach zu feiern und den Menschen etwas für den Support zurück zu geben, reagierte man unglücklich. Jedoch tat die Mannschaft auf diese Weise womöglich das Falsche, aber sie meinte das Richtige.
Wir alle fordern immer den mündigen Spieler, der Verantwortung auf und neben dem Platz übernimmt, und nicht den oberflächlichen Wappenküsser. So entstehen eben auch einmal Situationen, in denen sich Spieler nicht im Kollektiv 08/15 verhalten. Unsere Mannschaft hat sich nicht gegen ihre Fans gewendet, sondern sie wollte sich vor ihre wahren Fans stellen. Vor Fans, die begriffen haben, dass Fußball-Begeisterung und Leidenschaft ein Miteinander und nicht ein Gegeneinander im Kampf um die Hegemonie in der Kurve ist. Denn um nichts Anderes ging es hier. Aber wir sollten diese Angreifer als das benennen, was sie sind, Kriminelle, die die Wertegemeinschaft unseres Vereins nicht respektieren und die glauben, rechtsfreie Räume erschaffen zu können.
Wir müssen uns über eines bewusst sein. Der Verein bzw. die Mannschaft machte keine Baustelle auf. Diese Baustelle ist da. Jetzt wird sie endlich offen und hoffentlich ehrlich diskutiert und nicht unter den Teppich gekehrt. Auch hier ist Schweigen Silber und Reden sowie Handeln sind Gold. Die Erklärung, im Stadion selber passiere nichts und daher sei man nicht betroffen, reicht nicht aus. Der feige Übergriff zeigt eines, jeder von uns, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist, jeder, der zur falschen Zeit das Richtige sagt oder schreibt, kann das nächste Opfer sein. Es geht hier um einen Konsens der überwältigenden Mehrheit der Essener Anhänger, der Gewalt ablehnt. Es darf keinesfalls darum gehen, die gesamte Ultra- und aktive Szene über einen Kamm zu scheren. Es ist ein kleiner Teil innerhalb des Makro-Kosmos Westtribüne, der sich selbst als Herrscher über den Rest ansieht und diese gefühlte Herrschaft eben auch mit Gewalt durchzusetzen pflegt. Daher muss eben auch das Mantra „Gegen alle Stadionverbote!“ aus den Köpfen raus. Das große Problem jedoch ist, dass die betroffene Szene zwar extrem heterogen, aber sich in einem gewissen Verhaltenskodex einig ist, der es extrem schwierig macht, Täter zu sondieren.
Wenn wir uns bei jawattdenn.de gegen kriminelle Gewalttäter aussprechen, dann ist das eine Selbstverständlichkeit – über 99% der Stadionbesucher verurteilen den Überfall einer rot-weissen Fangruppe auf eine andere. Wahrscheinlich sieht das sogar der Großteil der Anhänger der Ultra-Subkultur so, doch die besondere Anziehungskraft auf die Jugendlichen und jungen Männer dieser Gruppierungen geht von einer in sich geschlossenen Welt mit eigenem Regelwerk aus: Es geht um Macht und einen eigenwilligen Ehrbegriff, strikte Ablehnung der Polizei, Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv. Da sowohl Täter als auch Opfer offenbar aus dem Ultra-Umfeld kommen, gibt es keine Strafanzeigen, keine Strafverfolgung und der Vorfall wurde bereits intern „geklärt“. Diese Konsequenz ist nur logisch, denn wer immer „ACAB“ oder „Gegen alle Stadionverbote!“ skandiert, kann nicht plötzlich die Exekutive bemühen oder auf Betretungsverbote pochen, ohne szeneintern seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Über die wahre Motivlage der internen Machtkämpfe erfahren Außenstehende ohnehin nichts, die Ultraszenen weltweit gefallen sich in ihrem ,Cosa Nostra‘-Spiel im Rahmen der Fußballpartien.
Genau hier kommt aber die Konfliktlinie zum Vorschein, die sich in den vergangenen Jahren verstärkt hat: Wo das Verteidigen der eigenen Fanutensilien sowie das Erobern fremder Fahnen, Schals und Klamotten szeneintern Anerkennung verschafft, mutiert die Subkultur in ihrer Ablehnung der Exekutive zum rechtsfreien Raum und zieht Subjekte an, die mit MMA-Training und Kraftsport das Recht des Stärkeren durchsetzen und sich dadurch diese Art der Anerkennung holen. Die Vermischung von Ultra- und Hooliganszene ist die logische Konsequenz dieser Entwicklung und hat in dieser Form nicht nur in Essen stattgefunden. Dabei gehören schwere Straftaten mittlerweile zum guten Ton – Fanbusse auf der Autobahn auszubremsen, um Fahnen zu klauen, inklusive.
In diesem Klima verwundert es nicht, dass auch die Hemmschwelle verschwunden ist, interne Machtkämpfe mit der Faust zu klären – wäre nicht zufällig die Mannschaft Zeuge des Vorfalls auf dem Rastplatz geworden, das Thema wäre eine weitere szeneinterne Randnotiz. Die Frage lautet daher: Wie geht es nun weiter und wie sehen die Konsequenzen aus? Wie bereits erwähnt, wird von den Tätern niemand verurteilt werden oder aus dem Stadion verschwinden, denn: Wo kein Kläger, da kein Richter. Die beteiligte(n) Gruppe(n) kollektiv abzustrafen entspricht keiner gängigen Rechtsauffassung. Ein runder Tisch mit den Beteiligten käme einer Belohnung für die Gewaltakte gleich. Es kann also nur darum gehen, Strategien für die Zukunft zu entwickeln, damit sich derartige Vorkommnisse nicht wiederholen. Vereinsseitig sind hier Bemühungen zu unternehmen, einen Kodex mit Fanclubvertretern auszuarbeiten (die explizit nicht nur aus der Ultraszene stammen dürfen), der bei derartigem Fehlverhalten einen internen Ausschluss aus der Kurve vorsieht, der notfalls auch mit Stadionverboten durchgesetzt werden muss. RWE hat einen Fanvertreter, der aus der Ultra-Szene stammt und hier hoffentlich vermittelnd wirken kann.
Die Vereinsvertreter sind gefordert, denn auch wenn es Marcus Uhlig „ankotzt“, immer wieder über derartige Vorfälle sprechen zu müssen, wurde nach den Vorfällen z.B. vom Blocksturm in Münster oder dem Hooligan-Aufmarsch beim Auswärtsspiel in Gelsenkirchen eben kein Zeichen gesetzt und strukturell nichts verändert. Auch der Kommentar unter der Woche nach dem Bayreuth-Spiel war nichtssagend und wenig hilfreich. Zugegeben, in der Haut eines Vereinsverantwortlichen möchte man in solchen Situationen nicht stecken, sodass eben nicht Ross und Reiter beim Namen genannt werden, sondern eher verklausuliert wird. Die folgende Aktion im Stadion war ein Wachrüttler der kickenden Angestellten, aber sie kann nur der Anfang gewesen sein. Wer fast 10.000 Dauerkarten und einen Zuschauerschnitt von 15.000 im Abstiegskampf der dritten Liga gerne mitnimmt, muss sich auch um die negativen Begleiterscheinungen kümmern, die der vielzitierte „schlafende Riese“ mit sich bringt. Es bleibt zu hoffen, dass der Großteil der Essener Ultraszene noch vernunft- und dialogfähig genug ist, diesen Selbstreinigungsprozess mitzutragen, denn als Außenstehender kann man sich von derartigem Verhalten nur kopfschüttelnd abwenden. Ein positives Zeichen nach dem Böllerwurf gegen Preußen Münster war, dass die FFA und das Bündnis Westtribüne im Anschluss daran tatsächlich eine kollektive Verurteilung eben solcher Böllerwürfe hinbekommen hat. Der kommende Weg und Prozess werden jedoch deutlich schwerer, aber ebenso notwendig werden.
Dominik Gsell & Sven Meyering