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WM 2006 Deutschland – Polen

Dem zweiten Spiel in einem Turnier kommt meistens kein legendäres Andenken zu. Es ist weder die mit der größten Spannung erwartete Auftaktpartie noch in aller Regel das Match, in dem die Entscheidungen über Wohl und Wehe der Teams fallen. Anders war es bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Damals zerstreute die deutsche Mannschaft mit ihrem Last Minute-Sieg über Polen viele Bedenken über ihre Turniertauglichkeit. Von nun an wurde es ein schwarz-rot-geiles Sommermärchen. Jawattdenn.de blickt zurück auf den 14.06.2006 und auf das weitere Turnier im eigenen Land.

WM 2006 in Deutschland

Das zweite Vorrundenspiel:

14.06.2006 in Dortmund, Signal Iduna Park (Zuschauer 65.000), Anstoß 21 Uhr, Schiedsrichter Luis Medina Cantalejo (Spanien)

Deutschland: Polen 1:0 (0:0)

Aufstellungen:

Deutschland:

Lehmann – Lahm, Mertesacker, Metzelder, Friedrich (64. Odonkor) – Frings, Ballack (C), Schweinsteiger (77. Borowski), Schneider – Klose, Podolski (71. Neuville) 

Trainer: Klinsmann

Polen

Boruc – Zewlakow (83. Dudka), Bak (C), Bosacki, Baszcynski – Sobolewski, Radomski, Krzynowek (77. Lewandowski), Zurawski, Jelen (90.+1 Brozek) – Smolarek

Trainer: Janas

Tor:

1:0 Neuville (90.+1)

Last Minute Treffer lässt Dortmund und die ganze Republik erbeben! Deutschland schlägt Polen kurz vor Schluss mit 1:0 und ist (fas)t im Achtelfinale!

Es war der Moment, in dem ganz (Fußball)-Deutschland Kopf stand! Um 22:50 MEZ beförderte Oliver Neuville die Kugel per Ausfallschritt ins polnische Tor und erlöste seine Mannschaft und mit ihr eine ganze Nation. Das Dortmunder Stadion und  die Republik erbebten. Das Goldene Tor zum 1:0 Sieg über Polen hat der deutschen Mannschaft die Tür ins Achtelfinale sperrangelweit aufgestoßen. Hier kommt unsere Analyse eines aufregenden Fußballabends.

Das Personal und die taktische Ausrichtung

Die deutsche Mannschaft begann mit einer Veränderung gegenüber der WM-Premiere gegen Costa Ricas. Kapitän Michael Ballack war von einer Wadenverletzung genesen und ersetzte den Bremer Tim Borowski im deutschen Mittelfeld. Somit stand erneut Jens Lehmann im Tor, Arne Friedrich, Pierre Mertesacker, Christoph Metzelder und Philipp Lahm bildeten die Viererkette vor ihm. Neben Ballack steuerte Frings das Zentrum, offensiver auf den Außen agierten Bernd Schneider und Bastian Schweinsteiger, Klose und Podolski waren die Doppelspitze. In dieser Formation war die DFB-Elf von Beginn an spielbestimmend, wenn auch noch nicht erfolgreich im Torabschluss.

Klinsmann wechselte dann den deutschen Sieg ein. Nach gut einer Stunde kam Flügelflitzer David Odonkor für Arne Friedrich, ein klares Angriffssignal, war die deutsche Formation doch nun noch offensiver. Lukas Podolski, der unglücklich agierte, wurde nach 70 Zeigerumdrehungen von Oliver Neuville abgelöst. Somit waren die beiden Protagonisten des deutschen Siegtreffers auf dem Feld. Der letzte Wechsel war Tim Borowski vorbehalten, der Basti Schweinsteiger in der 77. Minute ersetzte, Polen war gerade in Unterzahl geraten. So kam noch etwas mehr an Ballsicherheit in das Mittelfeld, denn mittlerweile belagerte die DFB-Elf das gegnerische Tor ohne Unterlass und Borowski verteilte mit Ballack und Frings die Bälle für die Angriffsstöße. Insgesamt betrieben Klinsi und Jogi sehr gelungenes Coaching.

Die Pluspunkte

Es war ein völlig verdienter Sieg der deutschen Mannschaft, die im Gegensatz zur Partie gegen Costa Rica ihre Defensive im Griff hatte und vorne Chancen im Überfluss erspielte. Jens Lehmann war fast beschäftigungslos und musste nur bei harmlos wirkenden Distanzschüssen zupacken. Auf der anderen Seite musste Artur Boruc mehrmals über sich hinauswachsen und avancierte zum besten Spieler seiner Mannschaft, wenn nicht zum besten Spieler auf dem Feld. Ein Dutzend deutscher Torchancen sprechen eine deutliche Sprache.

Es spricht zudem für die DFB-Elf, dass sie die Ruhe bewahrte, als der ersehnte Führungstreffer nicht fallen wollte. Bis zuletzt und bis zum Tor kombinierten die Deutschen und spielten kein Langholz. So fiel der goldene Treffer dann doch noch. Das DFB-Team blieb geduldig und verlagerte das Spiel mehrfach, bis Bernd Schneider den entscheidenden Pass in die Tiefe spielte, der den pfeilschnellen David Odonkor auf dem rechten Flügel im Rücken der Außenverteidigung freisetzte. Odonkors Hereingabe fand Neuville und fertig war das Siegtor.

Die Knackpunkte

Das große Plus war zugleich auch ein Manko. Die Chancenverwertung war gruselig. Sowohl Miro Kose als auch Lukas Podolski hätten mehrfach schon den Deckel auf das Spiel machen können. Selbst aus kurzen Torentfernungen verließen beide die Torjägerqualitäten. Kurz vor dem regulären Ende waren die Zuschauer kurz vor der völligen Verzweiflung. Klose traf per Kopf zunächst die Latte, der Nachschuss des deutschen Kapitäns Michael Ballack prallte erneut ans Gebälk, Odonkor traf im Nachschuss, doch nun war es eine Abseitsposition. Es schien so, als sollte es einfach nicht sein, was zum Glück ein Trugschluss werden sollte.

Solange die Polen noch mitspielten, hatten sie die ein oder andere gefährliche Umschaltsituation. Drei davon unterband die deutsche Elf mit taktischen Fouls, Ballack, Mertesacker und Odonkor fanden den Weg ins Notizbuch des Unparteiischen Cantalejo und gehen nun vorbelastet in das weitere Turnier.

Die Aufreger

Da ist natürlich erstens das deutsche Siegtor zu nennen, das fast mit dem Schlusspfiff fiel, Treffer, die bekanntlich die meisten Emotionen freisetzen. Ansonsten waren vor allem die, die es mit Deutschland hielten, je länger das Spiel dauerte immer verärgerter über das zunehmende Zeitspiel der Truppe von Pawel Janas. Spätestens nachdem Sobolewski nach 75 Minuten die Ampelkarte gesehen hatte, gaben die Polen ihre Hoffnungen auf einen Dreier auf und versuchten nun, das immer entfesselter aufspielende Deutschland durch allerlei Mätzchen auszubremsen.

Stellvertretend dafür sei die Gelb-Verwarnung von Schlussmann Artur Boruc genannt, der nach 89 Zeigerumdrehungen eher den Anschein machte, in seiner Box picknicken zu wollen, als das Leder bei einem Abstoß wieder ins Spiel zu bringen. Pawel Janas zog das taktisch völlig legitime Mittel, in der Nachspielzeit noch zu wechseln und Zeit von der Uhr zu nehmen. In der 91. Minute ersetzte er Jelen durch Brozek. Dieser hatte aber kaum den Platz betreten, da rappelte es doch noch im polnischen Karton. So ist Fußball.

Fazit und Blick über den Tellerrand – Die Lage in der deutschen Gruppe

Ein begeisternder und mitreißender Sieg der Klinsmänner, die somit höchstwahrscheinlich bereits mit dem zweiten Gruppenspiel das Ticket für das erste Match der K.O.-Runde lösen konnten, was seit der WM 1990 nicht mehr gelungen ist. Das könnte nur noch theoretisch verhindert werden. Am heutigen Abend spielt das im ersten Match gegen Polen siegreiche Ecuador gegen Costa Rica.

Siegen die Südamerikaner, wäre die Konstellation der Gruppe A bereits glasklar und Deutschland und Ecuador weiter, sowie Polen und Costa Rica ausgeschieden. Siegt Costa Rica könnte es am letzten Gruppenspieltag noch eine Konstellation mit drei punktgleichen Teams geben. Für die DFB-Elf geht es am kommenden Dienstag im Duell mit Ecuador aber definitiv um den Gruppensieg, den Deutschland sich auf alle Fälle holen möchte und der alle Rechenspiele ad acta legen würde.

Blick zurück aus der Gegenwart – so lief die Vorrunde der WM 2006 in Deutschlandund so ging das Sommermärchen weiter

Die WM 2006 im eigenen Land kam für eine nach der enttäuschenden EM 2004 neu formierte deutsche Nationalmannschaft eigentlich viel zu früh und nur die größten Optimisten glaubten im Vorfeld des Turniers, die DFB-Elf könne genau wie 1974 auf eigenem Boden den Titel gewinnen. Am Ende ging das Turnier dennoch als Sommermärchen in das kollektive Fußball-Gedächtnis der Nation ein.

Jürgen Klinsmann, Weltmeister 1990, wollte ebenso wie einst Kaiser Franz als Teamchef den Goldpokal für sein Land als Spieler und Trainer gewinnen. Klinsi holte sich den mit einer Trainerlizenz ausgestatteten Joachim Löw als Co an seine Seite und inszenierte diverse Reformen im deutschen Fußball, vor allem in der Nachwuchsförderung, die dringend notwendig waren und mittelfristig Erfolg zeigen sollten.

Die Zeit bis zur Endrunde der Weltmeisterschaft erschien dennoch sehr kurz und als Deutschland im März 2006 in einem Vorbereitungsspiel in Italien mit 1:4 unterlag und dabei vorgeführt wurde, erwog ein CDU-Bundestagsabgeordneter sogar, Klinsmann vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages Rede und Antwort stehen zu lassen, da man beim Heimturnier eine Blamage fürchtete. Das aber wurde dann ein großer, wenn auch noch kein sehr großer Erfolg.

Das unterhaltsame Auftaktmatch gegen Costa Rica gewann Deutschland mit 4:2, Start geglückt, doch die Costa-Ricaner deckten vor allem Defensivprobleme bei den Gastgebern auf, die die Zuversicht nicht gerade schürten, gewinnt doch bekanntlich die Defense Championships. Zudem entfachte sofort wieder die Torwartdiskussion, denn Jürgen Klinsmann und Joachim Löw hatten Jens Lehmann, gebürtiger Essener und in der Jugend für den ETB aktiv, zur deutschen Nummer 1 befördert. Lehmann, zum Zeitpunkt der WM bei Arsenal London, verdrängte Titan Oliver Kahn aus dem deutschen Tor.

Eben den Oliver Kahn, der mit Weltklasseleistungen bei der WM 2002 in Japan und Südkorea Deutschland bis ins Endspiel gehievt hatte. Obwohl Jens Lehmann bei beiden Treffern Costa Ricas gegen frei auf ihn zulaufende Stürmer nichts ausrichten konnte, machte man ihn als Destabilisator aus. Eher einem Fußball-Politikum als einer sportlichen Analyse geschuldet. Denn die Degradierung Kahns erfreute seinen Arbeitgeber Bayern München ganz und gar nicht und von der Säbener Straße flogen Giftpfeile noch und nöcher in Richtung des Trainerstabes des DFB. Bundestorwarttrainer Sepp Maier war aber ohnehin eher Kahn als Lehmann zugetan, kein Wunder bei Maiers Bayern-Vergangenheit.

Klinsmanns bereits jetzt angelegtes Zerwürfnis mit den Münchener Bossen sollte ihm drei Jahre später, er hatte sensationeller Weise als Coach beim FC Bayern angeheuert, noch zum Verhängnis werden. Der 1:0 Erfolg über Polen wurde dann aber zum großen Brustlöser im Turnier. Die Abwehr stand sicher und die deutsche Elf spielte unermüdlich auf den Sieg hin, bis dieser mit einer Dramaturgie, die sonst nur im Kino Platz findet, tatsächlich unter Dach und Fach gebracht wurde. Es brach ein Sturm der Freude im ganzen Land los, die Party ließ vermuten, Deutschland habe den Titel gewonnen und nicht nur ein Gruppenspiel.

Die letzten Zweifel am Einzug ins Achtelfinale zerstreute am nächsten Tag der 3:0 Sieg Ecuadors über Costa Rica. Vor dem letzten Gruppenspiel im Berliner Olympiastadion waren somit beide Kontrahenten sicher eine Runde weiter. Ecuador pokerte und brachte nur eine B-Elf aufs Feld, Deutschland spielte volle Kapelle und siegte am Ende 3:0. Miro Klose traf doppelt, Lukas Podolski zum 3:0 Endstand. Somit hatte die DFB-Elf nach der Vorrunde eine weiße Weste, das gelang zuvor nur bei den Titelkämpfen in Mexiko 1970 und seitdem nicht mehr.

Am Samstag darauf trafen die Deutschen in München auf Schweden und stellten mit einem fulminanten Beginn die Zeichen schnell auf Sieg. Nach 12 Spielminuten hatte Lukas Podolski per Doppelpack bereits den 2:0 Endstand hergestellt. Das Drei-Kronen-Team lief den Gastgebern die meiste Zeit nur hinterher und hätte höher verlieren können und müssen. Nur einmal wurde es noch knapp.

Stürmerstar Henrik Larsson jagte kurz nach der Pause einen Foulelfmeter in die Wolken der bayerischen Landeshauptstadt und vergab die Chance, eine Wende einzuleiten. Deutschland stand im Viertelfinale. Ecuador hingegen hatte sich mit der leichtfertigen Hergabe des Gruppensieges etwas verpokert, denn dadurch traf man auf England und kassierte durch einen Beckham-Freistoß das Turnieraus.

Die DFB-Elf aber kehrte am Freitag, den 30.06.2006 nach Berlin zurück, dorthin, wo sie auch gerne gut eine Woche später das letzte Turnierspiel bestreiten wollte, denn dann fand dort das Finale statt. Der Gegner Argentinien war natürlich ein mächtiges Kaliber. Die Zuschauer im ausverkauften Olympiastadion erlebten einen 120-minütigen Abnutzungskampf plus Nachspiel vom Elfmeterpunkt. Chancen blieben Mangelware, jedoch machten die Südamerikaner unter dem Strich den etwas reiferen Eindruck und hatten jedenfalls deutlich mehr den Ball.

In Führung gingen sie aber durch einen Standard. Einen Eckball von Spielmacher Riquelme nickte Roberto Ayala zur 1:0 Führung ein. Deutschland war zum ersten Mal im Turnier in Rückstand und es war klar, dass es gegen diesen abgebrühten Gegner nun sehr schwer werden würde. Argentiniens Coach José Nestor Pekerman tätigte dann aber Spielerwechsel, mit denen er sich nicht unwahrscheinlich verzockte. Zwanzig Minuten vor dem Ende brachte Pekerman den defensiven Mittelfeldspieler Cambiasso für den offensiven Dreh-und Angelpunkt seines Spiels Riquelme, einen waschechten Zehner.

Argentinien gab somit ein Stück des hart umkämpften Mittelfelds preis und als 10 Minuten später Stoßstürmer Hernan Crespo für den kopfballstarken Julio Cruz weichen musste war klar, dass Argentinien das Spiel über die Zeit schaukeln wollte. Doch dann kam Miroslav Klose und wuchtete einen Flankenball von Ballack, den Tim Borowski klug verlängerte, per Kopf in die argentinischen Maschen. Dieser eminent wichtige Treffer war bereits das zehnte Tor, das Miroslav Klose bei einer WM-Endrunde erzielt hatte. Es war jedoch Kloses erster Treffer, der in einem K.O.- und nicht in einem Vorrundenspiel gefallen war. So ging das unbarmherzige Duell mit wechselnden Feldvorteilen weiter, bis in die Verlängerung, die torlos bleiben sollte.

So kam es zu der immerwährenden Lotterie vom Punkt, zumindest bei Weltmeisterschaften eine deutsche Spezialität. Vor Beginn des Shoot-Outs kam es zu einer bemerkenswerten Szene zwischen Oliver Kahn und Jens Lehmann. Kahn wünschte seinem großen Kontrahenten viel Glück und es gab ein Shake-Hand. Zudem erhielt Lehmann von Torwarttrainer Andy Köpke einen ominösen Zettel, auf dem die Namen und bevorzugten Ecken der argentinischen Elfmeterschützen standen. Dieser psychologische Kniff saß offenbar, denn Lehmann, der demonstrativ mehrfach seinen Zettel las, parierte sowohl gegen Ayala als auch gegen Cambiasso. Alle vier deutschen Schützen (Neuville, Ballack, Podolski und Borowski) hielten dem Druck stand und Deutschland war im Halbfinale.

Die Südamerikaner, die große Siegeszuversicht ausgestrahlt und deren Bus mit singenden und tanzenden Männern im Innenraum in die Katakomben des Olympiastadions eingefahren war, zeigten sich als unsportliche und schlechte Verlierer. Einige Argentinier zettelten ein Handgemenge mit deutschen Spielern an, leider ließ sich Thorsten Frings dabei erkennbar zu einer Tätlichkeit hinreißen. Zumindest erkennbar für die mit aufklärerischem Impetus ausgestatteten italienischen Medien, die der FIFA TV-Bilder davon zur Verfügung stellten. Infolgedessen wurde Frings, einer der überragenden Spieler in der deutschen Elf, für das Halbfinale gesperrt. Gegen Italien. Ausgerechnet.

Ansonsten war auch auf den Rängen viel Dampf. So feierte die Familie Maradona um Weltstar Diego traditionell argentinische Siege und Auftritte bei dieser WM enthusiastisch singend und tanzend auf den Tribünen und schwang dabei gerne Handtücher. Die deutschen Spieler, allen voran Bastian Schweinsteiger, trieben dann auch ordentlich Schabernack mit Diego und den Seinen und verließen das weite Rund des Olympiastadions Handtücher schwingend und ausgelassen feiernd.

Vier Jahre später bei der WM in Südafrika sollte es noch ein Nachspiel zwischen Diego und Schweini geben. Als erster deutscher Spieler hatte Jens Lehmann bereits unmittelbar nach Ende des Elfmeterschießens das Feld Richtung Kabine verlassen, Lehmann wollte die Konzentration auf das nächste Match im Halbfinale hochhalten und nicht auf dem Rasen feiern.

Im Signal-Iduna-Park in Dortmund, das deutsche Wohnzimmer genannt, denn noch nie konnte ein Gegner zuvor ein Länderspiel hier für sich entscheiden, kam es dann zu einem epischen Kampf zwischen Deutschland und Italien, an dessen Ende sich dann leider doch zeigte, dass die DFB-Elf für den ganz großen Wurf noch nicht reif gewesen war.  Italien war die bessere Mannschaft und hatte die klareren Chancen, dennoch fielen keine Tore und Deutschland setzte immer wieder gefährliche Nadelstiche, die hoffen ließen.

Beinahe wäre es erneut ins Elferschießen gegangen. Dann jedoch schlug die Squadra Azzura unbarmherzig zu. In der 119. Minute traf Grosso und gut eine Minute später machte Del Pierro bei einem Konter den Deckel drauf. Am 04. Juli 2006, am 52. Jahrestag des Wunders von Bern, hatte Deutschland eine bittere Niederlage erlitten. Statt nach Berlin ging es nach Stuttgart, dort schlug die deutsche Mannschaft Portugal im Spiel um Platz 3 mit 3:1. Bastian Schweinsteiger erzielte einen lupenreinen Hattrick und Oliver Kahn kam doch noch zu einem Einsatz bei der Heim-WM. Die Fans feierten, als sei es der Titel gewesen.

Den holten sich die Italiener, die Frankreich im Elfmeterschießen schlagen sollten. Frankreichs Weltstar Zinedine Zidane feierte dabei leider einen unrühmlichen Abgang von der großen Fußball-Bühne, als er auf die Provokationen seines Kontrahenten Marco Materrazzi mit einem mit Rot deklarierten Kopfstoß reagierte. Die DFB-Elf fuhr am Ende doch noch nach Berlin und wurde auf der Fanmeile von Hunderttausenden gefeiert, obwohl sie nicht Weltmeister geworden war. Acht Jahre später kehrten Philipp Lahm und Co jedoch doch noch mit dem Goldenen Pokal nach Berlin zurück.

Die Weltmeisterschaft 2006 war eine Zeitenwende im deutschen Fußball, aber auch im gesellschaftlichen Umgang mit der Nationalelf. Da war zum einen die wiederentdeckte Freude an der deutschen Auswahl, auch gepaart mit enthusiastischer Freude. Wohl noch nie hatte Deutschland so klar und eindeutig hinter seiner Mannschaft gestanden, noch nie zuvor gab es einen derart unverkrampften Umgang mit den Symbolen des Landes, nachdem lange Jahre lang jegliche Form des Patriotismus nahezu verpönt gewesen war. Schwarz-Rot-Geil war angesagt.

Da das Land zugleich ein großartiger und freundlicher Gastgeber war, staunte die Welt über dieses weltoffene und sympathische Deutschland, das sich ohne chauvinistische Großmannssucht fast schon in die Herzen der Welt katapultierte. In fußballerischer Hinsicht wurde eine Mannschaft geboren, die in den folgenden Jahren entsprechend modifiziert und weiter geformt wurde. Spieler wie Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Lukas Podolski und Pierre Mertesacker feierten ihre WM-Premiere und wurden dann zur Säulen der Nationalelf. Als Deutschland bei der WM 2014 endlich den ersehnten vierten Stern holen sollte, standen noch fünf Spieler des Teams von 2006 im Kader. Vor allem die fußballerische Philosophie blieb erhalten. Attraktiver und offensiver als im Jahrzehnt zwischen 2006 und 2016 traten DFB-Mannschaften selten auf.

Das wegen der Auftritte des deutschen Teams und des ganzen Landes als Sommermärchen bekannte Turnier kam jedoch einige Jahre später in die Negativ-Schlagzeilen. Korruptionsvorwürfe über die Vergabe machten die Runde, unter anderem wurde auch Franz Beckenbauer, Chef des Orga-Komitees der WM, ordentlich angezählt. Dem positiven Gedächtnis der Veranstaltung tut dieses bis zum heutigen Tage keinen Abbruch.

Sven Meyering