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WM 1970 Viertelfinale Deutschland – England

Das Drei-Tage-Jahrhundertspiel – oder: Der Glanz einer Glatze

Die WM 1970 in Mexiko wird aus heutiger Sicht als eins der besten WM-Tourniere aller Zeiten bezeichnet. Als Argument ist nicht nur der Auftritt eines sehr, sehr guten Weltmeisterteams Brasilien zu nennen. Auch einzelne herausragende Partien trugen dazu bei, von denen an zweien unsere Nationalelf beteiligt war. Hier blicken wir auf das Viertelfinalspiel gegen England, in dem die Revange für die Wembley-Niederlage glückte. Und die Entwicklung des eh schon schütteren Haarbewuchses eine Spieler zur vollendeten Glatze wurde eingeläutet. Zu einer Glatze mit Glanz. Uwe Seeler gelang der zwischenzeitliche Ausgleich zum 2:2 mit dem Hinterkopf.

WM 1970 England – Deutschland

Das Viertelfinale:

WM 1970 in Mexiko

14.06.1970, 19:00 Uhr (MEZ), 12:00 Uhr (Ortszeit), in León, Estadio CampoNuevo(23.357 Zuschauer)

Schiedsrichter: Angel Coerezza ( Buenos Aires )

England – Deutschland   23 n.V. (10; 22)

Aufstellung:

England:

Peter Bonetti – Bobby Moore, Terry Cooper, Brian Labone, Keith Newton – Alan Ball, Sir Bobby Charlton (70.: Colin Bell), Alan Mullery , Martin Peters (81.: Norman Hunter) – Geoff Hurst, Francis Lee

Trainer: Alf Ramsey

Deutschland:

Sepp Maier – Franz Beckenbauer, Klaus Fichtel, Horst-Dieter Höttges (46.: Willi Schulz), Karl-Heinz Schnellinger, Berti Vogts – Wolfgang Overath, Reinhard (Stan) Libuda (55.: Jürgen Grabowski) – Hannes Löhr, Gerd Müller, Uwe Seeler

Trainer: Helmut Schön)

Die Tore:

0-1 Alan Mullery (31.) (Keith Newton), 0-2 Martin Peters (49.) (Keith Newton), 1-2 Franz Beckenbauer (68.) (Wolfgang Overath), 2-2 Uwe Seeler (82.) (Karl-Heinz Schnellinger), 3-2 Gerd Müller (108.) (Hannes Löhr)

Vorgeschichte:

Über das WM Finale 1966 in Wembley wird an anderer Stelle explizit zu berichten sein. Dennoch müssen wir hier ansetzen, um das legendäre Spiel vier Jahre später in Mexiko darzustellen. Verbindet sich doch mit jenem Finale für deutsche Nationalmannschaften der Mythos englischer Unbesiegbarkeit.

Tatsächlich weist die Länderspielgeschichte seit 1908 bis einschließlich Wembley ’66 keinen einzigen deutschen Sieg aus. Überhaupt gelang es bis dato erst drei kontinentaleuropäischen Teams einen Sieg aus England heimzubringen – Ungarn 1953, Schweden 1958 und Österreich 1965.

In Erinnerung ist eine Karikatur in der Sportberichterstattung einer Tageszeitung während der WM 1966, die zwei deutsche Schlachtenbummler darstellt, sitzend in der obersten Reihe des Wembley-Stadions, über die Schulter hinunterschauend auf die Straße, einen Engländer auf der Flucht vor seiner Frau beobachtend. Diese prügelte mit einem Nudelholz auf ihren Mann ein. Der eine Fan zum anderen: „Es heißt, auf der Insel seien sie unschlagbar.“

Auch die Szene ist noch präsent, wie der enttäuschte Uwe Seeler nach dem Schlusspfiff von Polizisten begleitet mit hängendem Kopf vom Platz begleitet wurde und artig der Queen bei der „Verliererehrung“ die Hand schüttelte. Ausgerechnet jenem Uwe Seeler gelang im Viertelfinale 1970 ein Tor, das dieses Spiel zum „Jahrhundertspiel“ machte … für drei (!) Tage.

Obwohl den Deutschen im Jahr 1968 in Hannover ein 1-0 Sieg gegen England gelang, schwang der Mythos englischer Unbesiegbarkeit 1970 in Köpfen und Herzen von mitgereisten Fans, Fernsehzuschauern daheim und auch der Mannschaft mit. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Gefühlslage war trotz des sehnlichen Wunsches nach Revanche hoffnungsvoll-mulmig.

Ausgangslage:

Deutschland kam verlustpunktfrei und souverän durch die Gruppenphase. Einem 2-1 gegen Marokko folgte ein 5-2 gegen Bulgarien. Ein 3-1 gegen Peru rundete den Auftritt in der Gruppe D ab.

Der englische Auftritt in der Gruppe C war ähnlich spielstark. Ins Viertelfinale gegen Deutschland mussten die Briten einziehen, weil es zwischen den beiden 1-0 Siegen gegen Rumänien und die Tschechoslowakei eine 0-1 Niederlage gegen den späteren Weltmeister Brasilien gab. Wenn man betrachtet, wie stark die Brasilianer durch das Turnier marschierten, ist diese Niederlage noch kein Hinweis auf eine eventuelle englische Schwäche.

So kam es zur Neuauflage der Finalpaarung vier Jahre zuvor. Ob es für Deutschland angenehmer gewesen wäre, gegen Brasilien zu spielen, lassen wir unbeantwortet. Jedenfalls war das die Gelegenheit zur Revanche schlechthin und jeder fieberte danach, Genugtuung für das empfundene Unrecht im Wembley-Finale zu erhalten.

Personal und taktische Aufstellung:

Trotz möglicher Vorbelastung durch die seitherige Bilanz spielte die deutsche Elf alles andere als mut- und hoffnungslos. Man wollte die Revanche. Auf der einen Seite Respekt, auf der anderen Seite ging man die Partie, die Chance witternd, mutig und engagiert an. Die taktische Aufstellung spiegelt das: Eine stabile Abwehr und ein entschlossener Angriff. 5 Defensivspieler stellte Helmut Schön auf – Fichtel und Höttges, welcher in der zweiten Halbzeit durch Willy Schulz ersetzt wurde, auf der einen Seite, Schnellinger und Vogts auf der anderen. Beckenbauer komplettierte die fünfköpfige Defensive, trat dann aber im Laufe des Spiels zunehmend offensiv als Spielmacher im Mittelfeld auf.

Zur Angriffsreihe gehörten Müller zentral, Löhr auf links und Seeler mit Schwerpunkt auf der rechten Seite. Dahinter das zahlenmäßig kleine aber sehr offensiv ausgerichtete Mittelfeld mit Overath und Libuda. Letzterer wurde ab der 55. Minute effektiv durch den Frankfurter Jürgen Grabowski ersetzt, was dem Spiel nach der 2-0 Führung der Engländer eine entscheidende Wende gab.

Die Engländer stellten sich mit einem 4-4-2 stabil auf. Mit Newton, Labone, Moore und Cooper in der Abwehr – Mullery, Ball, Bobby Charlton und Peters im Mittelfeld – sowie Lee und Hurst im Angriff. Sie hatten noch einige Spieler aus der Weltmeisterelf vier Jahre zuvor im Kader. Stammtorhüter Gordon Banks fehlte. Er wurde von Bonetti ersetzt. Banks habe sich eine Magenverstimmung aufgrund eines zu kalten Bieres am Vortag zugezogen, hieß es. Andere sprachen von „Montezumas Rache“, einer Magen- und Darmerkrankung, die man sich als Ausländer in Mexiko recht schnell einfängt. Aber vielleicht hatte er ja einfach aus einem anderen Grund „Schiss inne Buchs“. Denn Respekt vor dem Gegner hatten beide Teams.

Die Aufstellungen waren drei Stunden vor dem Spiel noch nicht bekannt. Solange Alf Ramsay seine Aufstellung nicht veröffentlich hatte wollte auch Helmut Schön sich nicht in die Karten blicken lassen.

Der Spielplan der Vorrunde sorgte dafür, dass die englische Mannschaft einen Ruhetag weniger als die Deutschen zur Verfügung hatte. Ob sich das auf die jeweilige Kondition auswirkte?

Spielverlauf:

Nach verhaltenem Beginn, war die Partie in den ersten 20 Minuten ausgeglichen mit guten Chancen auf beiden Seiten, die aber alle nicht verwertet werden konnten.

Die Führung der Briten in der 32. Minute fiel nicht unverdient. Sie spielten in dieser Phase etwas cleverer. Alan Ball passte zu Keith Newton. Dieser flankte hoch in den Strafraum. Im Gedränge vor dem deutschen Tor war Mullery mit seinem Fuß einen Tick schneller als sein Gegenspieler am Ball. Er musste den Fuß nur noch hinhalten.

Von diesem Moment an bekamen die Engländer das Heft in die Hand. Sie spielten deutlich druckvoller als die deutsche Elf. Kurz nach dem Wiederanpfiff zur zweiten Halbzeit war es wieder Newton, der auf der rechten Seite weit flanken konnte. Der Ball ging über die im Zentrum postierten deutschen und englischen Spieler hinweg. Etwa an der linken Ecke des Fünf-Meter-Raums war wieder ein englischer Angreifer – diesmal war es Peters – einen Schritt schneller, als sein Gegenspieler Vogts. Der Ball ging flach links unten ins Tor. 2-0! Der Mythos englischer Unbesiegbarkeit war inzwischen hellwach und tanzte in den Köpfen deutscher Spieler und aller mitgereisten Fans. Konnte Deutschland noch etwas entgegensetzen?

Es sollte bis zur 67. Minute dauern, bis eine Wende eingeläutet wurde. Inzwischen war Grabowski für Stan Libuda gekommen, was dem deutschen Spiel Auftrieb gab. Beckenbauer wurde im Mittelfeld angespielt und konnte sich unbedrängt bis zur rechten Strafraumecke vorkämpfen. Dann zog er einfach mal ab und traf mit einem langen flachen Schuss der Marke „Man kann es ja mal versuchen“ ins linke untere Eck. Anschlusstreffer.

Nun kippte das Spiel vollends. Bei den Engländern war Sir Bobby Charlton ausgewechselt worden, weil Ramsay ihn für das Halbfinale schonen wollte. Das gab dem englischen Spiel endgültig einen Knacks, zumal die Briten inzwischen doch konditionell abbauten. Die Deutschen waren erheblich fitter. Dennoch hatte England noch einige Großchancen.

Die 82. Minute – ein Moment der dieses Spiel zum Jahrhundertspiel machen sollte. Ein Befreiungsschlag der Engländer aus dem Strafraum landete im linken Mittelfeld bei Schnellinger, der weit in den Strafraum hinein über Freund und Feind hinweg an die rechte Torraumkante flankte. Uwe Seele musste dem Ball einige Schritte Richtung Seitenlinien hinterherlaufen, sprang hoch, bekam ihn auf den Hinterkopf (!), von wo er sich links an Torhüter Bonetti vorbei ins Netz senkte. Wollte Seeler diesen Ball unter Kontrolle bringen? Oder ihn abtropfen lassen auf einen Mitspieler, von denen aber niemand in der Nähe stand? Oder hatte er den Ball bewusst gezielt? Egal, Ausgleich! Und Jahrhunderttor!

Es gab, wie schon vier Jahre zuvor, Verlängerung.

In der 108. Spielminute spielte Grabowski einen seiner unnachahmlichen Angriffe über die rechte Seite. Einige Haken schlagend gelang es ihm, den Ball auf die linke Seite zu flanken, wo Hannes Löhr in mit dem Kopf mittig vor das Tor bringen konnte. Dann müllerte es. Der Mittelstürmer stand völlig frei drei Meter vor dem Tor und brauchte den Ball nur noch aus der Luft zu pflücken. 3-2! Die Revanche war geglückt. Das Halbfinale war erreicht, wobei die Engländer noch einige gute Chancen hatten, die aber allesamt entschärft wurden. Nicht zuletzt durch eine Glanzparade von Sepp Maier.

Das war es, das Jahrhundertspiel. Was zu diesem Zeitpunkt niemand wusste: es sollte ein solches nur für drei Tage sein. Denn was am 17.06. passierte, übertraf dies alles.

Knackpunkte:

Ein Knackpunkt betrifft beide Mannschaften gleichermaßen. Es war extrem heiß. Eine Fernsehreportage aus der damaligen Zeit erwähnt 55° auf dem Rasen. Fast unvorstellbar, dass man bei solchen Temperaturen spielen und auch noch solch eine Leistung abliefern kann.

Die deutsche Elf machte in der Anfangsphase den Fehler, die Bälle zu hoch in den englischen Strafraum zu spielen. Bei Kopfbällen waren die eher kleineren Müller und Seeler ihren Gegenspielern nicht gewachsen.

Beide Mannschaften ließen den Gegnern vor allem im Mittelfeld aber auch vor dem Strafraum viel Freiraum. Damals im Vergleich zu heute wohl üblich, aber von den Deutschen in diesem Fall sträflich. Newton hatte vor seiner Flanke, aus der das 1-0 resultierte, unangegriffen Platz und Zeit. Aber auch Beckenbauer bei seinem Anschlusstreffer zum 1-2 und schließlich Müller beim 3-2 nach „Müller Art“, hatten unwahrscheinlich viel Raum.

Knackpunkt im englischen Spiel: Die Auswechslung von Bobby Charlton.

Aufreger:

Zu Beginn der Partie ging einem die Luft aus – dem Ball. Die englischen Spieler beschwerten sich beim Schiedsrichter, der den Ball aufnahm, ihn mehrmals prüfend zärtlich drückte und die Diagnose bestätigt fand. Es folgte „der erste Wechsel“ in diesem Spiel.

Pfiffe gab es in der 9. Minute. Hurst schlug einen hohen Ball in den deutschen Strafraum. Sepp Maier hatte das Leder schon fest in der Hand, bekam aber von Lee einen Schlag ins Gesicht und musste danach eine Minute lang von Masseur Erich Deuser behandelt werden.

Fazit und Blick über den Tellerrand:

Der Ausgang der Gruppenphase in den Gruppen C und D ist berichtet. Werfen wir noch einen Blick in die Gruppen A und B. In Gruppe A setzten sich die Sowjetunion und Mexiko mit jeweils zwei Siegen und einem Remis punktgleich und mit gleicher Tordifferenz gegenüber Belgien und El Salvador durch. Der eine mehr geschossene Treffer der Sowjets wurde damals noch nicht gewertet. So wurde die Platzierungen 1 und 2 ausgelost.

Kurios das Abschneiden der Italiener in Gruppe B. Mit nur einem Tor gegen Schweden und zwei 0-0 Spielen gegen Uruguay und Israel belegte man den ersten Platz. Uruguay besiegte Israel und unterlag gegen Schweden. Das bessere Torverhältnis sicherte Platz zwei vor Schweden.

So kam es zu folgenden Partien im Viertelfinale:

Brasilien – Peru  4-2 (2-1)

Mexiko – Italien  1-4 (1-1)

England – Deutschland  2-3 n.V. (1-0; 2-2)

Sowjetunion – Uruguay  0-1 n.V. (0-0; 0-0)

Im Halbfinale besiegte Brasilien Uruguay mit 3-1 (1-1). Im anderen Halbfinale traf Deutschland auf Italien und lieferte erneut ein Jahrhundertspiel ab. Die Partie endete nach hartem Kampf und nach Verlängerung 3-4 (1-0; 1-1). Darüber berichten an anderer Stelle gesondert.

Souverän beendete Brasilien die WM mit einem Finalsieg gegen Italien 4-1 (1-1). Die Brasilianer waren in diesem Jahr nicht zu bezwingen.

Deutschland verabschiedete sich mit einem Sieg gegen Uruguay im Spiel um den dritten Platz. Das Tor schoss Wolfgang Overath in der ersten Halbzeit. Franz Beckenbauer spielte nicht mit. In der Partie gegen Italien brach er sich das Schlüsselbein und spielte die Partie mit dem Arm in der Binde zuende. Gegen Uruguay durfte er sich erholen.

Deutschland spielte eine sehr gute WM. Trotz des unglücklichen Ausgang des Halbfinals gegen Italien trat Deutschland in allen Spielen stark auf. Dazu die Beteiligung an gleich zwei Jahrhundertspielen innerhalb von drei Tagen lassen kein anderes Fazit zu als dieses, dass dies eines der besseren WM-Turniere Deutschlands war.

Blick zurück aus der Gegenwart:

Die WM 1970 war ein Schritt in die Moderne, eine weltweite mediale Öffnung. Erstmals wurden Spiele aus Lateinamerika live im Fernsehen übertragen und das auch gleich in Farbe. Damit die Übertragungen in Europa gewinnbringend vermarktet werden konnten, wählte man für diesen Zuschauermarkt Sendezeiten im besten Abendprogramm, was für zahlreiche Spiele Anstoß um 12.00 Uhr Ortszeit bedeutete. Das betraf auch dieses Viertelfinalspiel.

Gelbe und rote Karten wurden eingeführt, wobei die rote aber während der WM nicht zum Einsatz kam. Gerd Müller auf deutscher und Francis Lee auf englischer Seite zeigte der Schiedsrichter, dass er die gelben Kartons in der Brusttasche seines Trikots dabei hatte.

Auch durften erstmals zwei Spieler ausgewechselt werden. Das war den klimatischen und topographischen Bedingungen geschuldet. Es war heiß und einige Spielorte lagen „atemberaubend“ (im wahrsten Sinne des Wortes) hoch.

Sportlich ist zu vermerken, dass Deutschland seit dem Spiel in León bei Weltmeisterschaften nie mehr gegen England verlor. Es gab wohl Niederlagen bei WM-Qualifikationsspielen, Europameisterschaften und auch in Freundschaftsspielen. Aber für die WM war eine neue Ära angebrochen. Aus dieser Elf entwickelte sich ein Team, das zwei Jahre später die vermeintlich „beste deutsche Nationalelf aller Zeiten“ genannt wurde. Im Verlauf des EM-Turniers traf man 1972 im Viertelfinale wieder auf England und gewann fulminant 3-1 … in Wembley!