Horst Gehle, seit jeher Glockenhorst genannt, ist im Alter von 74 Jahren gestorben.
Über die Stadtgrenzen hinaus war Horst für sein penetrantes, selten taktgebendes Glockengeläut, seine Begeisterungsfähigkeit und seine unverwüstliche Liebe zu Rot-Weiss Essen bekannt. Skurrile Auftritte in den Stadien dieser Republik und nicht zuletzt der Kinofilm „Pottoriginale“ und andere Videos von Gerrit Starczewski trugen weiter zu seiner Popularität bei.
Unvergessen bleibt sein Platzsturm auf vier Rädern in Mannheim. Unaufhaltsam bewegte Horst seinen elektrischen Rollstuhl nach Abpfiff quer über den Rasen, um live vor den Kameras von Magenta den Auswärtssieg mit der Gästekurve zu feiern. „Glockenhorst, Glockenhorst, Glockenhorst“ intonierten die über 2.000 mitgereisten Essener im Jubelrausch, bevor Horst die Kurve zur Welle animierte.
Mindestens genauso prominent dürften die Szenen vom Oberhausener Hbf sein, als Glockenhorst nach diversen Zwischenfällen ein unverbindliches Angebot zum Nahkampf aussprach: „Watt wollt ihr denn, ihr Wichser? Der Stärkste hierhin!“ Ein wenig Schattenboxen, ein rechter Leberhaken und eine gestochene Gerade führten letztlich zur erfolgreichen Abschreckung der Kontrahenten. Seine unverkennbaren Worte wurden von den 257ers und den Jungs vom Internetphänomen „essendiese“ zu einem Song verarbeitet, der zur inoffiziellen Hymne für die Essener Jugend und alle Junggebliebenen wurde.
Ein weiterer Song für, über und mit Glockenhorst, stammt aus der Feder von Thomas „Sandy“ Sandgathe. Das Lied ist eine Hommage, welche die Essener Legende portraitiert und dabei auch ein unerfreuliches Kapitel thematisiert, sein Stadionverbot. Das wurde ihm nach einem Spiel gegen Bayer Leverkusen II im Kölner Südstadion erteilt. Horst hatte seine Liebe zum Verein oftmals auf weißen Pappen, Kunststoffplatten oder auch Bettlaken mit kreativen Texten zum Ausdruck gebracht. Um sein Kunstwerk im Stadion vom Zaun zu lösen, hatte er eine Schere im Gepäck, die ihm zum Verhängnis wurde. Spätestens als die engstirnigen Ordner noch eine Flasche Stauder in seinem Rollstuhl fanden, kannten diese keine Gnade mehr und wähnten wohl etwas Schlimmes verhindert zu haben. Der Song, der mit einigen Worten von Glockenhorst selbst endet, rührte ihn damals zu Tränen.
Kultstatus existierte nicht immer
Die Geschichten rund um Glockenhorst sind unzählig. Kaum ein RWE-Fan hat nicht seine eigenen Erlebnisse mit Glockenhorst. Die Anekdoten und Schoten aus seinem Leben werden sicherlich auch in Jahrzehnten noch weitererzählt und für Frohsinn und Heiterkeit an den Tresen der Essener Gaststätten sorgen. Dort, wo auch Glockenhorst den lieben Gott gerne einen guten Mann sein ließ und sein Stauder trank.
Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass Horst dieser Kultstatus nicht in die Wiege gelegt wurde und er rund um die Jahrtausendwende nicht immer mit offenen Armen empfangen wurde. Das Bewusstsein und die Wertschätzung für Personen mit derartigem Profil entwickelte sich erst mit der Veränderung des Fußballs vom Proletariersport zur Massenveranstaltung für die gesamte Breite der Gesellschaft. Die markanten Charaktere stechen seitdem stärker heraus und werden heute zu Unikaten. Leider verschwinden diese besonderen Persönlichkeiten schleichend aus den Stadien, während die Fankurven immer stärker zur Monotonie neigen. Das Leben von Glockenhorst war alles andere als monoton.
Erste Berührungspunkte mit der Hafenstraße
Am 5. Dezember 1949 in Essen geboren, wuchs Horst im Segeroth („Wo man sticht mit Messer, wo man schießt mit Schrot, da ist meine Heimat, Essen-Segeroth“) auf. Als Kind ging er auf die Beisingschule und spielte angeblich bis zur A-Jugend sogar selbst für RWE.
Sein erster Besuch an der Hafenstraße war ein Länderspiel der deutschen Schülernationalmannschaft gegen England im Jahr 1957. Ein Spiel, das zwischen 1956 und 1998 jährlich ausgetragen wurde und seinen Ursprung in der Völkerverständigung nach dem Krieg hatte. Die Schüler in Essen hatten damals Freikarten erhalten. Der junge Horst war von seinem ersten Stadionbesuch begeistert und kehrte wieder, um den Hausherren Rot-Weiss Essen spielen zu sehen. Der Weg für ein beispielloses Fan-Dasein war geebnet.
Bundeswehr und Boxkarriere
Fußball war allerdings nicht die einzige Leidenschaft von Glockenhorst. Als junger Erwachsener galt er als talentierter Boxer, wurde Niederrheinmeister und kämpfte in Wilhelmshaven sogar gegen Jean-André Emmerich um die Deutsche Meisterschaft. Eine Handverletzung schränkte Horst, dem weder Rechts- noch Linksauslage fremd waren, jedoch ein, so dass er sich dem späteren Berufsboxer Emmerich geschlagen geben musste. Damit platzte auch der Traum von einer Teilnahme an den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko.
Verifizieren lassen sich die Aussagen bislang nicht, aber wie bei allen Stories von Glockenhorst gilt: So oder so ähnlich wird es schon gewesen sein.
Nach der Schule zog es Horst für 18 Monate zur Bundeswehr, wo er als Panzergrenadier und Waffenmechaniker tätig war. Stationiert in der Theodor-Körner-Kaserne in Lüneburg, ging es mit seinem VW Käfer regelmäßig mit den missionierten Kameraden zu den Spielen der Roten.
Erste Jobs und ein krummes Ding
In den 70er Jahren hat Glockenhorst für eine Tankstelle am Heidhauser Platz gearbeitet. Dort hat er als Autoschrauber und Tankwart sein Geld verdient. Aus dem VW Käfer war zwischenzeitlich ein DKW 1000 geworden, den er für 300 Mark gekauft hatte.
Mit der Zeit lockte allerdings das schnelle Geld. 1983 habe Horst für den besten Tresorknacker Deutschlands Schmiere gestanden, bis dann eines Morgens die Polizei vor der Tür stand. Es folgten 19 Monate U-Haft, bis er zu zwei Jahren verurteilt wurde. Seine Komplizen verpfiff er nicht. Dafür sei er hinter verschlossenen Türen gut versorgt worden, hatte z.B. auch einen Fernseher in seiner Zelle.
Prägend war diese Zeit für ihn allem voran, weil er im Gefängnis zu seinem Glauben fand. Jeden Sonntag ging es für Horst in die Kirche. Weniger aus Überzeugung, sondern zunächst nur, weil die Kirche der Umschlagplatz für Kaffee und Kippen war. Die regelmäßigen Gottesdienstbesuche hatten allerdings bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Kirchenlieder blieben im Ohr, ein bisschen so wie die Gesänge im Stadion. Halleluja! Dieser Ausruf war fortan steter Begleiter seines Lebens. Auch an der Hafenstraße.
Auch für Horst ein Highlight: Das Pokalfinale ‘94
Wie für viele andere RWE-Fans, war auch für Horst das Pokalfinale 1994 gegen Werder Bremen das Highlight in seinem Fanleben. Um für den großen Coup nichts unversucht zu lassen, hatte er auf der Trabrennbahn Gelsenkirchen einige Hufeisen gesammelt und mit den schönsten Farben der Welt angemalt. Mit diesen Glücksbringern und einem Schlafsack im Gepäck, machte sich Horst drei Tage vor dem großen Spiel mit dem Mofa auf den Weg in die Hauptstadt. Zumindest bis ihm in Dorsten der Gaszug riss. Behelfsweise konnte Horst die Maschine noch bis Gladbeck zurückfahren, um das Mofa von dort zurück bis ins Essener Nordviertel zu schieben.
In der Not stand seine Mutter Ruth ihm bei und drückte Horst 100 DM in die Hand. Im nächsten Anlauf ging es dann per Anhalter nach Berlin. Mit Erfolg: „Block 11, Reihe 1, Platz 9! Die Karte habe ich immer noch!“, erzählte Horst! Nachdem er sein Ticket zunächst auf einem Rastplatz verkaufte und sein Plan, mit einem Presseausweis ins Stadion zu kommen, nicht aufging, konnte er mit dem Geld seiner Mutter kurz vorm Spiel noch ein Ticket für die Bremer Seite des Olympiastadions erwerben. Für den Pokalsieg reichte es nicht, trotz der rot-weissen Hufeisen, aber Horst hatte es mal wieder trotz aller Kapriolen ins Stadion geschafft. Übernachtet hatte er anschließend bei Bekannten seiner Eltern aus der Kirchengemeinde, die nach Berlin gezogen waren und letztlich sogar seinen Rückflug bezahlten.
Nicht nur in RWE hatte Horst seine Familie
Von seinen Eltern hatte Horst immer in höchsten Tönen gesprochen. Bis zuletzt hatte er in der Wohnung seiner Mutter, die 2004 verstarb, gelebt. Vater Günther starb bereits im Jahr 2000. Er war Platzwart an der Ruhrau bei Steele 09, wo auch Horst in den 80ern noch spielte. Dritte Mannschaft. Als er mal oben aushalf und es gegen Preußen Eiberg ging, wo Willi Lippens Trainer gewesen sei, hatte er dem Team der Ente mit Ankündigung zwei Tore eingeschenkt. Quelle, wie immer: Glockenhorst.
Mit dem Rollstuhl und dem Behindertenausweis seines Vaters hatte sich Horst immer wieder ins Georg-Melches-Stadion geschummelt, wenn das Geld mal knapp war. Die lebenslange Dauerkarte, mit der er von Dr. Michael Welling ausgestattet wurde, war zu dieser Zeit noch ein feuchter Traum. Auch auswärts funktionierte der Trick mit dem Rollstuhl. Unvergessen die Bilder aus Köln im Jahr 2006, als Glockenhorst sich inmitten der Rollstuhlfahrer erhob, um den Spielball zu fangen. „Ein Wunder!“ schrie jemand von der Tribüne.
Horst hinterlässt einen Bruder, zu dem er kein einfaches Verhältnis hatte und eine Tochter, zu der er seit 2019 keinen Kontakt mehr pflegte. Mit strahlenden Augen erzählte Horst aber von einer Begegnung in seiner ehemaligen Stammkneipe „Stadttor“, als ein junger Gast ihn ansprach: „Du bist doch mein Opa, oder?“ – Dann enden seine Erzählungen abrupt.
Laut eigener Aussage war Horst 2-3 Jahre verheiratet. Kurios bleibt die Geschichte von einer Dortmunder Millionärin, mit der er die Fanfreundschaft zum BVB begründet haben soll.
Wie Horst zu seiner Glocke kam
In den 90ern verdiente Horst seine Brötchen mit dem Verkauf von Zeitungen. Mit einer kleinen Glocke machte er dabei in den Kneipen Rüttenscheids auf sich aufmerksam. 1995 kam es zu dem legendären Spiel auf dem Aachener Tivoli, als Horst erstmals im Stadion die Glocke läutete. Hoch auf dem Zaun sitzend, der von den mitgereisten Essenern derartig zum Wackeln gebracht wurde, dass Glockenhorst die Latte küssen konnte. Die ganze Geschichte erzählt Horst als Laiendarsteller im Film „Pottoriginale“. Mit einem Enthusiasmus, der sich nicht in Worte fassen lässt.
1999 wurde Horst zum besten BamS-Verkäufer des Jahres gekürt. Die Glocke hatte wohl tatsächlich ihre Wirkung. Nicht nur der Artikel zu seiner Ehrung, sondern gleich die ganze Zeitungsseite hing eingerahmt in seiner Wohnung. Glockenhorst ist in seiner Verkaufsmontur abgebildet. Auf derselben Seite lächeln Otto Rehhagel und die Brüste von Naddel um die Wette.
Sandy als treibende Kraft bei seiner Unterstützung
In seiner Wohnung kam Horst mit der Zeit leider immer schlechter zurecht. Das Karpaltunnelsyndrom machte ihm schwer zu schaffen. Seine Hände waren manchmal so taub, dass ihm die Teller an schlechten Tagen einfach aus den Händen fielen. Das Gehen fiel aufgrund der Durchblutungsstörungen immer schwerer und selbst der Rollstuhl war irgendwann keine Lösung mehr. Um Horst wieder zum Herr der Lage zu machen, trommelte sein Freund Sandy im Jahr 2020 einige RWE-Fans zusammen, um seine Wohnung wieder auf Vordermann zu bringen, einen elektrischen Rollstuhl zu besorgen und sich um einen Pflegegrad zu bemühen, der seinen Alltag erleichtern sollte. Im Notfall finden sich immer ein paar Rote, die mit anpacken, wenn es um den allseits beliebten Glockenhorst geht.
Knapp vier Jahre konnte Horst diese Hilfe noch in Anspruch nehmen. Eine Zeit, in der er glücklicherweise noch die Rückkehr seines Vereins in den Profifußball miterleben durfte. Nach 14 tristen Jahren ging es für RWE wieder auf die große Fußballbühne und auch Glockenhorst schaffte es trotz aller Einschränkungen immer wieder vor Ort zu sein. Mal stieg er in irgendeinen Bus, wenn irgendwo noch ein Platz frei war. Mal tauchte er im ICE auf und merkte erst auf den Schienen, dass er für 125 € nur die Hinfahrt nach Freiburg am DB-Schalter bezahlt hatte. Mal nahmen ihn RWE-Fans im Auto mit, die er am Vorabend erst im Nordviertel getroffen hatte. Zum Dank trällerte er gerne ein Lied. Wupp, wupp, wupp.
Wenn der Ball nicht rollte, war Glockenhorst häufig am Viehofer Platz anzutreffen. Café Nord, Turock, Panic Room, hier ging er ein und aus. Zu später Stunde kam es sogar vor, dass Horst plötzlich an der legendären Mupa, Essens ältester Disco, auftauchte und sich wie selbstverständlich an den Türstehern vorbeischob, während selbige einen gerade mit fadenscheinigen Begründungen abgewiesen hatten.
Regelmäßiger Gast war Glockenhorst zudem im Café [Iks], einer Initiative der Aidshilfe Essen, die in unmittelbarer Nähe zu seiner Wohnung ansässig war und immer eine warme Mahlzeit für ihn bereithielt. Freitags war der Besuch bei der Essener Tafel fest eingeplant.
Eine Stadt in Trauer
Zweimal, zuletzt im Dezember 2021, wurde Glockenhorst bereits in den (a)sozialen Medien für tot erklärt. Diesmal, am 20. Oktober 2024, bestätigte sich die Nachricht leider.
Riesige Anteilnahme macht sich breit. Vom Oberbürgermeister Thomas Kufen bis hin zum Berliner Rapper Finch (900.000 Follower bei Instagram) gibt es Beileidsbekundungen. Ehemalige Spieler, Fans und Leute, die gar keinen Bezug zu RWE haben, trauern um Glockenhorst, posten Bilder und Videos von ihren ganz persönlichen Begegnungen mit ihm.
Ein bewegtes Leben geht zu Ende, dass viele harte Prüfungen für Horst Gehle mit sich brachte. Wer in aller Welt kann trotz der vielen Turbulenzen noch so ein Mindset aufbringen und mit einer solchen Zuversicht, mit einer solchen Gutherzigkeit und einer solch unbändigen Lebensfreude unterwegs sein? Unterwegs für Rot-Weiss Essen, seinem Herz, seiner Sehnsucht, seiner großen Liebe. RWE war für Glockenhorst der Anker und zugleich der Motor in seinem Leben. RWE bedeutete ihm alles.
Der Verein verliert eine treue Seele. Einen Fan, der unerschütterlich zu ihm stand. Der wenig hatte, aber alles gab. Bedingungslos.
Die Stadt verliert eine Ikone. Einen Botschafter für Herzlichkeit und Zusammenhalt. Überall wo Glockenhorst auftauchte, zauberte er den Menschen ein Lächeln ins Gesicht und verbreitete gute Laune. Außer vielleicht am Oberhausen Hbf.
Die Vorstellung, dass Horst seine Glocke nie mehr im Block R5 läuten wird und auch am Hafenstübchen nie mehr anzutreffen sein wird, macht tieftraurig.
Die Stadt und der Verein mögen Horst Gehle auf ewig ein würdiges Andenken bewahren. In den Geschichten der RWE-Fans wird Glockenhorst ewig weiterleben.
Ruhe in Frieden, lieber Horst, du feiner Kerl!
Sebastian Hattermann