Das DBG-Lexikon der deutschen Sprache (Ausgabe 1969, ein rot-weisses Aufstiegsjahr!) definiert den „Fan“ als „leidenschaftlich für etwas Begeisterte[n]“ und das Adjektiv „fanatisch“ als „mit blinder Leidenschaft sich für etwas einsetzend“ – was diese triviale Definition mit der gegenwärtigen sportlichen Situation von Rot-Weiss Essen zu tun hat? Dass manch ein Zeitgenosse, der sich selbst als RWE-Fan bezeichnet, mal genau in sich hineinhorchen sollte, ob sein gegenwärtiges Verhalten leidenschaftlichen Einsatz für Rot-Weiss Essen oder doch eher für sein eigenes Ego bedeutet!
Es ist nur wenige Wochen her, dass der unaufhaltsame rot-weisse Aufstiegsexpress vom Boulevard schon in die dritte Liga geschrieben wurde und manch ein Fan angesichts der nicht enden wollenden Siegesserie spekulierte, wie viele Spiele vor Schluss der Aufstieg denn nun eingetütet sei. Seitdem gab es drei weitere Siege, es wurde ein Liga-Spiel verloren (mit einer ziemlich schlechten Leistung, aber dazu später mehr) und drei Auswärtsspiele gingen unentschieden aus, zwei davon gegen die Tabellennachbarn aus Oberhausen und Fortuna Köln – einhellige Meinung: Der Gegner hätte sich über eine RWE-Führung mit drei Toren zur Halbzeit nicht beschweren dürfen.
Nach der vierten englischen Woche in Folge lieferte die Mannschaft vorgestern eine äußerst schwache zweite Halbzeit ab und der, mit dem Remis in Aachen einhergehende, Rückstand auf Tabellenführer Preußen Münster bringt bei manch einem Rot-Weissen wieder alte Reflexe aus den Zeiten der französischen Revolution hervor.
Kritik und Gerüchte: Eine Frage der Art und des Urhebers
Die Handvoll Hofnarren, die in den Kommentarspalten oder der Live-Chat-Funktion des lokalen Boulevard-Blättchens selbst bei zweistelligen Siegen noch den Kopf des Trainers fordern, finden sich in dieser oder anderer Ausprägung in jedem Verein und sind nicht der Rede wert. Auf den Tribünen herrscht in Essen in den vergangenen Jahren eine deutlich positivere Grundeinstellung als früher – ausgenommen natürlich auch dort dieselben Hofnarren, die einem Verein unserer Größenordnung nun mal zustehen und die mit ihren belustigenden Aufführungen (komödiantischer Höhepunkt bislang sicherlich die Kritik an Simon Engelmann) bei 99% der Anhängerschaft höchstens für Unruhe im Zwerchfell sorgen.
Die sportliche Bilanz von Christian Neidhart
Besorgniserregend und nicht ganz so unterhaltsam ist hingegen leider die Dynamik, mit der sich seit gestern die Gerüchte über eine Neidhart-Entlassung verbreiteten, denn nicht nur entbehrten sie jeglicher Grundlage – sie widersprechen auch der Stimmung an der Basis. Wer sich beispielsweise an die Entlassungen von Uwe Neuhaus und Waldemar Wrobel zurückerinnert, hat sicherlich noch einen wütenden Mob auf der Tribüne vor Augen, der die besagten Köpfe forderte, ehe die handelnden Personen Taten folgen ließen. Es gibt aber auf den Tribünen keine Forderungen nach einem Neidhart-Rauswurf, weil diese Forderung nur von jemandem stammen könnte, dem es nicht am Wohl unseres Vereins gelegen ist.
Doch gibt es nicht vielleicht gute Gründe, am Trainer zu zweifeln? Die Punkteausbeute ist es jedenfalls nicht. Christian Neidhart hat in der Saison 2020/2021 zusätzlich zu mehreren DFB-Pokal Sensationen auch in der Liga abgeliefert: 90 Punkte aus 40 Spielen bedeuten einen Schnitt von 2,25 Punkten pro Spiel. Blickt man auf die aktuelle Tabelle stehen dort 71 Punkte aus 32 Spielen. Da die 0:2-Wertung im Münster-Spiel kaum dem Trainer anzulasten ist, muss man zu einer fairen Betrachtung das 1:1 zum Zeitpunkt des Abbruchs in die Wertung einbeziehen und kommt auf 72 Punkte in 32 Spielen – einen Schnitt von ebenfalls exakt 2,25 Punkten pro Spiel! Da der Punkteschnitt unangreifbar ist, stürzen sich die wenigen sachlichen Kritiker auf den Spielstil. Abgesehen davon, dass es einem RWE-Fan scheißegal sein sollte, wie es ein Trainer schafft, über fast 2 Jahre hinweg eine so konstant hohe Punkteausbeute einzufahren, solange er es schafft, muss man auch die Spezies der notorischen Neidhart-Kritiker etwas genauer unter die Lupe nehmen.
Zwei Seiten einer Medaille: Der Titz-Romantiker als Neidhart-Kritiker
Kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie und dem Regionalliga-Saisonabbruch 2019/2020 samt Nichtaufstieg wurde der allseits beliebte Christian Titz entlassen, der RWE in seiner ersten Saison mit einem Punkteschnitt von 2,16 auf Platz 3 führte und erstmals seit Beginn des Daueraufenthalts in Liga 4 auch in der Rückrunde am Aufstieg schnupperte. Mit dem Torwart an der Mittellinie als elftem Mann im offensiven Ballbesitzspiel avancierte der charismatische Trainer zum Heilsbringer für viele Anhänger. Unabhängig von der Bewertung der Titz-Entlassung konnte sein Nachfolger bei einigen nur verlieren, schließlich wurde von Spieltag 1 an nur ein Grund gesucht, warum die Titz-Entlassung falsch gewesen sei und Neidhart nicht besser sein konnte. Dieses Muster kennt man in Essen bereits von vorherigen Trainerwechseln (z.B. Neuhaus zu Köstner oder Wrobel zu Fascher): Entweder war der Nachfolger in jeder Hinsicht besser als der unbeliebte Vorgänger oder eine Vollkatastrophe im Vergleich zum beliebten Vorgänger. Geholfen hat diese Lagerbildung höchstens unseren Gegnern.
Christian Neidhart wird gerne seine kontrollierte Offensive mit vielen knappen Siegen angekreidet und demgegenüber die Vergangenheit unter Christian Titz verklärt, der jedoch nicht nur die Top-Spiele gegen Verl und Rödinghausen verlor, sondern auch gegen Fortuna Köln und die Zweitvertretung von Mönchengladbach unterlag sowie ein blamables 0:2 gegen den VfB Homberg und enttäuschende Punktverluste bei TuS Haltern und der blauen Zweitvertretung hinnehmen musste (in insgesamt nur 25 Liga-Spielen für den Verein). Dass Titz ebenfalls häufig das Last-Minute Glück (Dortmund II, Hin- und Rückspiel Köln II, Wuppertal) oder Zittersiege (Homberg, Bergisch-Gladbach, Düsseldorf II) auf der Habenseite verbuchte wird über eine Handvoll Offensivfeuerwerke vergessen – und die gab es unter Neidhart ganz genauso.
Die „letzte Patrone“ sind die Niederlagen (von 72 Ligaspielen hat Neidhart 6 verloren!), denn über die schlimmen Auftritte in beiden Spielzeiten in Ahlen oder das 1:4-Defensivslapstick-Spektakel gegen Straelen sind sich alle Fans einig. Nur: Diese Ausrutscher hat jede Fußballmannschaft auf dem Planeten! Selbst Bayern München unter Julian Nagelsmann kann in der gegenwärtigen Saison auf ein 2:4 in Bochum, ein 1:2 in Augsburg und ein 0:5 im Pokal in Mönchengladbach zurückblicken. Dass eine Mannschaft frei von unerklärlichen Ausrutschern durch eine Saison marschiert, ist mit keinem Trainer der Welt zu garantieren und von daher sollte das absurde Kapitel „Trainerentlassung“ doch eigentlich auch geschlossen sein, oder?
Ein WAZ-Artikel und was dahintersteckt
Nicht ganz! Denn obgleich Marcus Uhlig eine eindeutige Antwort auf eine eigentlich nie gestellte Frage lieferte, lohnt es sich, im heutigen WAZ-Artikel von Ralf Wilhelm zwischen den Zeilen zu lesen. Zur Erinnerung: Wir liegen mit zwei Punkten Rückstand hinter Preußen Münster auf Platz 2 und sind lediglich nicht Tabellenführer, weil eine Hohlbirne einen Knallkörper auf den Platz geworfen hat. Im Endspurt haben wir eindeutig das leichtere Restprogramm, doch Ralf Wilhelm konnte „fast Träume platzen hören“ als die Spieler zu den Fans gingen und „fast emotionslos hoch zu ihren Anhängern schauten“. Laut Wilhelm gibt „die Mannschaft […] im Endspurt der Liga immer mehr Rätsel auf“ und „erste Unstimmigkeiten auf dem Platz werden sichtbar“, weil sich Engelmann und Plechaty auf dem Platz angifteten. Zum einen widerspricht das der Emotionslosigkeit, die der Verfasser dem Team andichten möchte und zum anderen würde es doch eher Rätsel aufgeben, wenn sich Fußballspieler in solch einer Situation eben nicht auch mal angiften. Selbst Rios Alonsos kämpferische Worte können Ralf Wilhelms Meinung nicht ändern, denn „richtig überzeugend klang das nicht.“
Auch der Artikel klingt nicht so richtig überzeugend, denn die Konklusion steht für den Verfasser bereits fest, der einen Absatz mit der rhetorischen Frage „Werden aus diesem Holz Aufsteiger geschnitzt?“ schließt. Ralf Wilhelm ist ein guter Beobachter und liefert eigentlich Qualität ab, mit der er sich wohltuend von der Boulevard-Variante aus seinem Haus abhebt – doch die völlige Schwarzmalerei im aktuellen Artikel ist scheinbar von vereinsnahen Quellen gefüttert. Die Antwort findet man nämlich weiter unten: „Am Montag ging erst einmal der halbe Verein auf Fehlersuche, die Gremien tagten und ließen nur durchblicken: So kann und wird es nicht weitergehen. […] Vielleicht liegen die Probleme auch tiefer.“
An dieser Stelle muss leider festgehalten werden: Das Problem liegt tiefer, aber woanders als der Artikel andeutet! Das Klagelied kommt nämlich nicht aus dem Kreis der Mannschaft und die Krise muss man schon herbeischreiben wollen. Es sind auch nicht etwa „die Fans“, die Christian Neidhart absägen wollen, sondern einige, ganz wenige Personen, die teilweise aus dem direkten Vereinsumfeld stammen oder sogar in Gremien sitzen. Nicht nur Ralf Wilhelm und die WAZ haben dort ihre Quellen, sondern auch die Amateure dieser Redaktion. Daher lässt sich leider gesichert feststellen: Mitten im Aufstiegskampf mit immer noch besten Chancen, das lang ersehnte Ziel zu erreichen, werfen Quertreiber aus den eigenen Reihen – einige mit guten Kontakten zur Presse, andere anonym im Internet – dem Verein Knüppel zwischen die Beine! Das Gerücht (bzw. der dahintersteckende Wunsch) der Neidhart-Entlassung stammt aus dem unmittelbaren Umfeld des Vereins und darf als massiv vereinsschädigend bezeichnet werden, denn bei den tatsächlich Verantwortlichen gab es diese Diskussion zu keinem Zeitpunkt.
Wir halten zusammen, RWE, RWE!
Hier schließt sich der Kreis zur eingangs erwähnten Definition des Fans: Es ist völlig egal, ob jemand den Spielstil von Christian Neidhart nicht mag oder welchen Torwart er gerne als Nummer 1 hätte. Wer sechs Spieltage vor Ende der Saison bei dieser Ausgangslage im Internet Abhandlungen zu den Ursachen eines möglichen Scheiterns verfasst oder Gerüchte über eine Trainerentlassung in die Welt setzt, hat kein rot-weisses Herz! Wer ein rot-weisses Herz hat, glaubt an den Aufstieg, weil wir dafür hart gearbeitet und uns diesen endlich verdient haben. Ein Fan betrachtet jedes der letzten sechs Ligaspiele als Endspiel und feuert die Mannschaft an, egal bei welchem Spielstand und egal, ob die Mannschaft dabei auch mal Phasen durchmacht, wo sie keinen Pass über fünf Meter an den Mann bringt: Gerade da kann der Fan – und zwar nicht als Kritiker, sondern als Unterstützer – für ein positives Ergebnis sorgen. Wir haben den Aufstieg rechnerisch nicht mehr in der eigenen Hand, aber wir haben es in der eigenen Hand, ob wir es ein paar Egomanen im Verein zugestehen, Unruhe zu stiften oder endlich gemeinsam das langersehnte Ziel „Dritte Liga“ erreichen. Von daher gilt: Keine Chance den Quertreibern und vollen Kurs auf drei Punkte am Samstag gegen Gladbach II!
NUR DER RWE!
Dominik Gsell