Kategorien
Weißte noch?

Einmal Lotte und zurück – ein Rückblick auf 14 Jahre im Fußballniemandsland

Vom Sommer 2008 bis zum Sommer 2022 hatte sich Rot-Weiss Essen aus dem Profifußball verabschiedet. Jawattdenn.de hat sich dran gemacht und 14 Jahre im Fußballniemandsland aufgearbeitet. Eine Reise, die an einem Freitagabend in Lotte begann und an einem Samstagnachmittag (fast) dort endete. Mit tragischen, kuriosen, witzigen, charmanten und manchmal auch etwas peinlichen Anekdoten rund um uns und unseren Verein. Das erste Kapitel ist online, viel Spaß beim Lesen.

Vom Sommer 2008 bis zum Sommer 2022 hatte sich Rot-Weiss Essen aus dem Profifußball verabschiedet. Das waren nach Adam Riese 14 verdammt lange Jahre, die bei manchen so anderen Vereinen sicherlich nachhaltige negative Spuren beim Fanpotenzial hinterlassen hätten. Gänzlich ungeschoren kam sicherlich auch RWE nicht aus dieser wahnsinnig langen Durststrecke heraus und leider viel zu viele junge Fans laufen heute nicht in den einzig wahren Farben Rot und Weiss durch ihre Heimatstadt Essen, sondern muten dem Auge des Betrachters schwarz-gelbe oder noch schlimmere blau-weiße Geschmacksverirrungen zu. Doch zeigte die Party nach unserem Aufstieg am 14.05. eines ganz deutlich, Rot-Weiss Essen wird niemals untergehn! Und das ist durchaus bemerkenswert, nach all den Jahren in der viertklassigen Regionalliga West mit einem einjährigen Intermezzo in der fünftklassigen NRW-Liga. Jawattdenn.de hat sich dran gemacht und 14 Jahre im Fußballniemandsland aufgearbeitet. Eine Reise, die an einem Freitagabend in Lotte begann und an einem Samstagnachmittag (fast) dort endete. Mit tragischen, kuriosen, witzigen, charmanten und manchmal auch etwas peinlichen Anekdoten rund um uns und unseren Verein. Am Ende wird uns vielleicht auch noch einmal allen klar, in welch guten Händen Rot-Weiss Essen im Jahre 2022 bei Marcus Uhlig und Jörn Nowak ist. Und eines wird auch klar: Egal, was passiert, wir sind und bleiben treu. Sonst hätte uns so manche Sache, die wir hier aufleben lassen, sicherlich vertrieben. Doch wir sind und bleiben Rot-Weisse! Nun endlich auch wieder im Profifußball. Viel Spaß beim Lesen!

Kapitel I: Schlimmer geht’s immer – die beiden Jahre nach Lübeck

Nach fünf Jahren im Fahrstuhl – ab der Saison 2004/2005 erlebte Rot-Weiss Essen zwei Auf- und drei Abstiege – folgte 2008 der Ausstieg auf Ebene 4, der Regionalliga West, die unterhalb der neu gegründeten Dritten Liga eingeführt wurde. Es sollte dauern, bis die Tränen des Lübeck-Spiels getrocknet waren, doch die Transfermeldungen im Sommer beschleunigten den Trocknungsprozess und weckten den Glauben der rot-weissen Anhängerschaft daran, dass der Absturz in die Viertklassigkeit – der zweite nach dem einjährigen Intermezzo 1998/1999 – erneut nur von kürzester Dauer sein würde. Ein wahres Star-Ensemble um Mölders, Kurth, Michael und Stefan Lorenz, Maczkowiak, Kühne, Pagano, Czyszczon, Mainka und Bührer würde die Regionalliga West ohne Zweifel in Grund und Boden schießen!

Thomas Strunz gibt Jürgen Klopp wertvolle Tipps für erfolgreichen Fußball

Das achtbare 1:3 in der ersten Runde des DFB-Pokals gegen die erstmals von Jürgen Klopp in einem Pflichtspiel betreute Borussia aus Dortmund machte kurz vor dem Ligastart zusätzlich Hoffnung auf mehr. An einem Freitagabend im August 2008 reiste der euphorisierte rot-weisse Auswärtsmob dann nach Lotte und erlebte einen Auftakt nach Maß. Sowohl das Getreidefeld als Gästeparkplatz als auch die löchrige Defensive der Gastgeber sorgten für Jubel, Trubel und Heiterkeit. Doppelpacker Stefan Kühne stimmte nach dem ungefährdeten 4:1 die „Humba“ an und traf auch eine Woche später beim 4:0 gegen die Gelsenkirchener Zweitvertretung, um sich gleichauf mit Sascha Mölders an die Spitze der Torjägerliste zu setzen. Der anstehenden Tour über die Dörfer wurde mit Humor und Zuversicht von der Tabellenspitze entgegengeblickt.

Spitzenreiter, Spitzenreiter. Nur nicht lange.

Doch die rot-weisse Glückseligkeit hielt nur ganze zwei Wochen, dann leitete ein 0:2 im Spitzenspiel bei Kaiserslautern II eine weitere rot-weisse Albtraum-Saison ein: Peinliche Unentschieden gegen Cloppenburg, Kleve, Ludwigshafen-Oggersheim und im Rückspiel gegen die Sportfreunde Lotte ließen RWE bereits vor der Winterpause weit zurückfallen. Mit Neumayr, Zinke und Wunderlich erhielt der Kader noch mehr Hochkaräter, nur um in der Rückrunde dann das Kunststück zu vollbringen, die ohnehin stark gebeutelten Anhänger mit der 1:2-Pleite in der Turnhalle, einem 0:4 zuhause gegen Preußen Münster und dem verlorenen Niederrheinpokalfinale daheim gegen den Sechstligisten Speldorf noch schlimmer zu demütigen.

Hat er ja nicht Unrecht gehabt, der Ernst.

Bezeichnenderweise saß bei jedem der drei genannten Debakel ein anderer Übungsleiter auf der Bank: Michael Kulm wurde von Ernst Middendorp abgelöst, der nach vier Niederlagen aus fünf Spielen jedoch von Sportdirektor Thomas Strunz entlassen wurde, damit dieser sich anschließend lieber gleich selbst auf die Bank setzen konnte. Nach Berichten von Trainingskiebitzen blieb es Middendorps größter Verdienst, im Rahmen eines Trainingsspiels aufzudecken, dass es in der peinlichen Karikatur einer Fußballmannschaft nach einem Dreivierteljahr Spieler gab, die den Vornamen ihres Mitspielers nicht kannten. Das letzte Liga-Heimspiel der Versager-Truppe gegen Ludwigshafen-Oggersheim verfolgte eine absolute Minuskulisse sitzend auf der Nordtribüne, um wenigstens die Sonne genießen zu können. Zum Saisonabschluss reiste der harte Kern der rot-weissen Auswärtsmasochisten zur Dortmunder Zweitvertretung ins Westfalenstadion und sah dem Gegner beim Aufstieg zu, während die eigene Truppe nach satten 11 Niederlagen auf Tabellenplatz 7 einlief.

Ernst Middendorp brachte es auf ganze 5 Spiele als RWE-Trainer

Eine ausgiebige Saisonanalyse brachte jedoch schnell die Aufstiegsformel 2009/2010: Mehr Thomas Strunz wagen! Der Sportdirektor blieb auch zur neuen Saison direkt in Personalunion als Sportdirektor und Trainer auf der Bank sitzen und kaufte kräftig ein. Die Achse des Tabellenzweiten Kaiserslautern II bestehend aus Stachnik, Neubauer und Broniszewski wechselte geschlossen nach Essen und wurde unter anderem um die zweit- und drittligaerfahrenen Herzig, Holsing und Heinzmann ergänzt. Gleich am ersten Spieltag und unmittelbar nachdem die Essener Polit-Prominenz zur Saisoneröffnung den Start des Stadionneubaus verkündet hatte, wurden die leergekauften Lauterer mit 2:0 nach Hause geschickt.

OB Reiniger gab vor dem Lautern-Spiel den Startschuss zum Stadionneubau

Immerhin hielt sich die neue Star-Truppe gar nicht lange damit auf, dem Anhang falsche Hoffnungen auf eine rosige Zukunft zu machen: Nur eine Woche später gab es schon wieder eine Niederlage in der benachbarten Turnhalle und das folgende 1:2 gegen den FC Saarbrücken war der Auftakt zu drei Heimniederlagen in Folge, an deren Ende Thomas Strunz in seiner Doppelfunktion Geschichte war. Die Interimslösung bestehend aus den bisherigen Co-Trainern Außem und Erkenbrecher stabilisierte die Truppe im Tabellenmittelfeld, jegliche Aufstiegshoffnungen wurden jedoch am 13. Spieltag mit einem 0:3 in Lotte begraben. Knapp ein Jahr nachdem die rot-weisse Regionalliga-Reise lachend auf dem Lotter Gästeparkplatz begann, lachten nun die Sportfreunde von der Tabellenspitze über Rot-Weiss Essen!

Glockenhorsts Prophezeiung sollte dann doch erst etwas später eintreten

Wer bereits nach dem Wiedererleben der ersten anderthalb Jahre Regionalliga psychologische Hilfe zur Traumabewältigung in Erwägung zieht, sei vor den Ereignissen ab der Winterpause ausdrücklich gewarnt – die Rückrunde 2009/2010 könnte direkt aus der Feder Edgar Allan Poes stammen! Alles begann mit der Frage, wie sich RWE das Strunz’sche Starensemble nach dem Ausstieg der großen Hauptsponsoren 2008 eigentlich leisten konnte.

Die Antwort: Gar nicht! „Flasche leer“ war mit vorgezogenen Sponsorengeldern der Folgesaison All-In gegangen – die entstandenen Lücken hätten sich im Aufstiegsfall schon irgendwie stopfen lassen. Den Aufsichtsratvorsitzenden Dietmar Bückemeyer hatte Strunz auf seiner Seite, entlassen wurde er vom Vorstandschef Stefan Meutsch – ohne das Wissen Bückemeyers. Wissen um die finanzielle Situation hatte offenbar niemand im Verein, denn der Blindflug der Vereinsführung musste ganz abrupt korrigiert werden: Mit Sascha Mölders wurde im Winter der Superstar abgegeben und durch die vom Arbeitsamt mitfinanzierten Bendovsky, Chitsulo und Ouedraogo aus der Vertragslosen-Auswahl der Fußballergewerkschaft ersetzt. Im Sommer musste auch Mike Wunderlich gehen. Hotelaufenthalte vor Auswärtsspielen wurden ebenso gestrichen wie kostenlose Cola und Fanta nach dem Training. Erst als letztere Nachricht durchsickerte, ahnten die ersten RWE-Fans, dass es um den Verein schlimmer stand als befürchtet.

Vor dem ganz großen Knall hatte die immer noch gut besetzte Mannschaft in der Rückrunde jedoch zunächst noch ein paar sportliche Tiefschläge parat: Das 0:3 gegen den Tabellenletzten Wormatia Worms hätte gut als Lowlight der Saison gepasst, doch einen Monat später reiste eine immer noch beachtliche Schar rot-weisser Anhänger nach Münster, wo ausgerechnet Lübeck-Versager Güvenisik das zweite Tor beim 4:0-Erfolg der Gastgeber erzielte und ausgiebig vor der ihn 90 Minuten lang beschimpfenden Gästekurve feierte. Gekrönt wurde die Rückrunde mit einer erneuten Pleite im Niederrheinpokalfinale. Wieder daheim. Wieder gegen einen klassentieferen Gegner – diesmal ausgerechnet den ETB. Nach dem 1:2 zog ein wütender Mob hinter die Haupttribüne und belagerte die Katakomben. Das folgende Auswärtsspiel in Wattenscheid gegen Bochum II boykottierten viele Fans auf kreative Weise auf einer nahegelegenen Halde mit Protest-Transparenten.

Damals wie heute

Sportlich beendete RWE die Saison auf Platz 5 und mit Peter Hyballa war bereits ein namhafter Trainer für die Folgesaison verpflichtet worden, doch das Dilettantenstadel in den rot-weissen Gremien hatte noch eine Überraschung parat: Auf einer Sonderveranstaltung im VIP-Zelt erfuhren die völlig entsetzten Fans, dass RWE aktuell keine Regionalligalizenz erhalten würde. Auch der anwesende Neu-Trainer hörte zum ersten Mal, dass ein siebenstelliger Betrag fehlte, da der amtierende Oberbürgermeister Reinhard Paß dem Verein jegliche finanzielle Unterstützung seitens der Stadt abgedreht hatte.

Nachdem die Privatadresse des Bürgermeistes ermittelt wurde, zog eine rot-weisse Diplomatendelegation in den Stadtwald, um mit dem Hagelkreuz-Napoleon Argumente austauschen und diesen möglicherweise zu einer anderen Entscheidung bewegen zu können. Aus Angst vor den rhetorischen Fähigkeiten der Essener Anhänger verbarrikadierte sich Paß jedoch unter Polizeischutz in seinem Anwesen und ließ die Uhr bis zum 4. Juni runterlaufen, als über tausend Fans – inklusive des mittlerweile in der zweiten Liga kickenden Sascha Mölders – die Verkündung von Dr. Thomas Hermes vor dem Stadion abwarteten.

Der Götterbote verkündete den Lizenzentzug, Rot-Weiss Essen war insolvent, der Vorstand flüchtete über einen Hinterausgang zu bereitstehenden Taxis und für RWE gab es nun zwei Optionen: Im besten Fall ein Abstieg in die Oberliga, im schlimmsten Fall die Löschung aus dem Vereinsregister mit Neustart in der Kreisliga. Verständlicherweise hielt sich der Optimismus auf ein Best-Case-Szenario nach den Vorjahren bei der Anhängerschaft in Grenzen und das große Zittern begann – so oder so war nun endgültig der Tiefpunkt der Vereinsgeschichte erreicht…

Weiter zu Kapitel II