Das erste Vorrundenspiel:
WM 1982 in Spanien
16.06.1982 in Gijón, Stadion El Molinon (42.000 Zuschauer), Anstoß 17:15 Uhr, Schiedsrichter: Enrique Labo Revoredo (Peru)
Deutschland – Algerien 1:2 (0:0)
Aufstellung:
Deutschland:
Schumacher – Kaltz, Stielike, K.-H. Förster, Briegel – Dremmler, Breitner, Magath (82. Fischer), Rummenigge, Hrubesch, Littbarski (Trainer: Derwall)
Algerien:
Cerbah – Mansouri, Guendouz, Kourichi, Merzekane – Fergani, Dahleb, Belloumi, Zidane (64. Bensaoula) – Madjer (88. Larbes), Assad (Trainer: Mekloufi)
Tore:
0:1 Madjer (52.), 1:1 Rummenigge (68.), 1:2 Belloumi (69.)
Unternehmen dritter WM-Titel startet mit großer Schmach! Häuptling Silberlockes Europameister unterliegen Fußball-Zwerg Algerien zum Auftakt 1:2!
Das hatte sich Fußball-Deutschland anders vorgestellt. Diskutierte man im Vorfeld nur über die Höhe des deutschen Auftaktsieges bei der Fußball WM in Spanien gegen das „kleine“ Algerien, so herrschen nun Entsetzen und Zweifel darüber, ob es für den amtierenden Europameister und WM-Mitfavoriten Deutschland überhaupt über die Vorrunde hinausgehen wird.
Ebenso sensationell wie hochverdient zog die Mannschaft von Häuptling Silberlocke Bundestrainer Jupp Derwall mit 1:2 den Kürzeren gegen den WM-Neuling aus Nordafrika, der ebenso wie beim bisher einzigen Aufeinandertreffen (1964 2:0 in Algier) die Oberhand behalten sollte. So lief das Spiel in Gijón.
Das Personal und die taktische Ausrichtung
Die deutsche Nationalelf startete in einer offensiven Formation. Neben den beiden „Stoppern“ Karl-Heinz Förster und dem Madrilenen Uli Stielike, der sich immer wieder auch weiter vorne einzuschalten versuchte, bildeten die „Walz von der Pfalz“ Hans-Peter Briegel auf Links und Banananflankenerfinder Manni Kaltz auf der Gegenseite die ebenfalls grundsätzlich offensiv ausgerichteten Außenverteidiger. Wolfgang Dremmler vom FC Bayern spielte auf der 6 und sollte dem vorgelagerten Paul Breitner den Rücken freihalten, Felix Magath den linken Flügel beackern.
Ganz vorne wollte die DFB-Elf mit Stoßstürmer Horst Hrubesch algerischen Beton knacken, Dribbelkünstler Pierre Littbarski vom 1. FC Köln sollte über seine angestammte linke Seite kommen, Kapitän Karl-Heinz Rummenigge, vom Naturell ein weiterer Mittelstürmer kam eher über den rechten Flügel, stieß aber auch immer wieder neben Hrubesch ins Zentrum.
So begann Derwall mit den derzeit besten deutschen Vorzeigestürmern von den in der Bundesliga stark konkurrierenden Klubs aus München und dem Hamburger SV. Insgesamt war Deutschland fast zu offensiv ausgerichtet und geriet dadurch in der Rückwärtsbewegung häufiger in Unterzahl. Vor allem im Mittelfeld postierte sich der Gegner Algerien deutlich kompakter als Deutschland und inszenierte immer wieder schnelle Gegenangriffe. Darauf reagierte Jupp Derwall taktisch kaum.
Nach 82 Zeigerumdrehungen stellte der Bundestrainer auf totale Offensive um und brachte für den ausgesprochen mäßig aufspielenden Felix Magath mit Klaus Fischer einen weiteren gelernten Mittelstürmer. Auch diese Maßnahme sollte verpuffen und im Zentrum nahmen sich die deutschen Spitzen eher gegenseitig den Raum.
Die Pluspunkte
Wenn ein haushoher Favorit derart stolpert, ist diese Kategorie standardmäßig nicht üppig besetzt. Natürlich hatte Deutschland mehr Torabschlüsse, spielte häufiger in der gegnerischen Hälfte und besaß den Ball öfter. Mit etwas mehr Effizienz hätte die DFB-Elf zumindest ein Remis retten können.
Ein Lichtblick war Pierre Littbarski, der zumindest einige erfolgreiche Dribblings startete, Litti fehlte aber das Abschlussglück, echte Torgefahr ging meistens nur von Kalle Rummenigge aus. Ein gelungener Spielzug ging dem Ausgleich zum 1:1 voraus, als Deutschland das Spiel in die Breite und dann auch endlich in die Tiefe bekam und Felix Magath in seiner besten Aktion freigespielt auf dem linken Flügel Rummenigge scharf und präzise bediente.
Der Bann schien gebrochen. Aber eben nur scheinbar. Nach dem postwendenden 1:2 traf Rummenigge noch einmal per Kopf die Latte, Hrubesch gewann nach einstudiertem Zusammenspiel mit Klubkollege Kaltz ein Kopfballduell in der Mitte, als auch Keeper Cerbah unter dem Ball her tauchte. Dieser ging leider über die Latte des algerischen Tores.
Die Knackpunkte
Die deutsche Mannschaft ließ es an allem vermissen, was notwendig ist, um erfolgreich in ein großes Turnier zu starten. Von Beginn an zeigte sich der Gegner Algerien wuseliger und setzte die ersten offensiven Akzente. Die deutsche Mannschaft wirkte zeitweilig zu lethargisch und geriet in der Mittelfeldzentrale auch bedingt durch die jeweilige taktische Ausrichtung der Teams bei gegnerischem Ballbesitz in Bedrängnis.
So fielen beide algerische Tore im Prinzip deckungsgleich. Die spielfreudigen Algerier erkannten den großen Offensivdrang des deutschen Rechtsverteidigers Manni Kaltz als Schwachstelle, gleich zweimal spielte das Team von Trainer Rachid Mekloufi den Ball blitzsauber in den Rücken der rechten deutschen Abwehrseite. Beim ersten Treffer gingen die Algerier wie das heiße Messer durch die Butter durch das deutsche Mittelfeld, das keinen Zugriff erhielt. Zidane setzte mit einem Klassepass in die Schnittstelle Rachid Belloumi ein, der frei vor Toni Schumacher zunächst noch vom Tünn geblockt werden konnte, doch beim Abpraller sagte Rabah Madjer Dankeschön.
Drei deutsche Verteidiger standen deutlich schlechter zum Ball als der energisch nachgerückte Madjer, der die Kugel in Kung-Fu-Manier im Kasten versenkte. Kaum schien die Wende durch den Ausgleich eingeleitet, zeigten sich die Nordafrikaner erneut wacher und deutlich fokussierter als der Gegner. Neun Stationen benötigte Algerien, um dem großen Favoriten, der phlegmatisch dem Ball hinterherschaute, erneut einen einzuschenken.
Der Treffer offenbarte sowohl Spielwitz als auch großen Willen, Tugenden, die man bei der Derwall-Elf vergeblich suchte. Salah Assad erhielt auf dem linken Flügel den Ball von einem Mitspieler, leitete diesen sofort weiter und hinter lief dann mit energischem Antritt Felix Magath, der im Vergleich dazu wirkte wie eine schnaubende Dampflok. Assad erhielt das Leder schulbuchmäßig wieder, drang in die deutsche Box ein, zog zur Grundlinie und bediente Belloumi in der Mitte, der zum 2:1 Siegtreffer vollendete. Die deutschen Spieler wirkten nur wie Statisten.
In der Folgezeit belagerte die DFB-Elf zwar das Tor des Underdogs, doch konnte der nur 1,74 Meter große algerische Schlussmann Mehdi Cerbah die meisten deutschen Abschlüsse sogar problemlos festhalten. Unverständlich, dass die deutsche Elf die Lufthoheit über Kopfballungeheuer Horst Hrubesch kaum zu nutzen wusste. So wirkte ein algerischer Entlastungsangriff, den Madjer kurz zentral vor der Box abschloss, gefährlicher als die meisten deutschen Angriffsbemühungen. Madjers Schuss hatten viele bereits im Tor gesehen, doch er strich haarscharf am rechten deutschen Pfosten vorbei und verfing sich noch im Hintertornetz.
Die Aufreger
Einmal war der Ball dann doch noch zum vermeintlichen Ausgleich zum 2:2 im algerischen Tor, doch Schiedsrichter Enrique Labo Revoredo aus Peru hatte zuvor ein vermeintliches Foul von Hrubesch im Luftkampf erkannt. Das erschien so eindeutig nicht. Ansonsten verärgert den deutschen Fußball-Fan die arrogante Haltung, mit der die deutsche Nationalelf in diese Partie gegangen ist und am Ende sehen musste, dass es die sogenannten Kleinen im Weltfußball nicht mehr so häufig gibt.
Das war auch dem Umfeld geschuldet. So ließ sich 54er Weltmeister Jupp Posipal kurz vor dem Spiel noch mit der Aussage zitieren, dass nur Österreich für Deutschland ernstzunehmen sei und man gegen Algerien und Chile im Grunde am selben Tag, einmal morgens und einmal abends spielen könne. Algeriens Coach Mekloufi brauchte keine große Motivationskunst mehr, um seine Mannschaft brennend heiß aufs Feld zu schicken. Dazu reichte solche Aussagen aus dem deutschen Lager gewürzt mit den Spekulationen der Boulevardpresse über die Höhe des Sieges der Derwall-Elf.
Fazit und Blick über den Tellerrand – Die Lage in der deutschen Gruppe
Eigentlich hatten alle erwartet, dass die deutsche Nationalelf nach dem Auftaktspieltag von der Tabellenspitze der Gruppe 2 grüßt, doch nun ist die DFB-Elf nur Dritter, ein Platz, der nicht zur Teilnahme an der Zwischenrunde berechtigen würde. Das zuvor als härtester Konkurrent ausgemachte Österreich wurde jedoch anders als die Deutschen seiner Favoritenstellung gegen Chile gerecht und besiegte die Südamerikaner durch einen Treffer von Walter Schachner mit 1:0. So ist zugleich ordentlich Druck auf dem Kessel, wenn Deutschland am kommenden Sonntag auf die Chilenen treffen wird. Ein Sieg ist Pflicht. Und dafür wird eine Steigerung in allen Mannschaftsteilen bitter notwendig werden.
Blick zurück aus der Gegenwart – so lief die Vorrunde der WM 1982 in Spanien – Anekdoten rund um das Spiel gegen Algerien
Die WM in Spanien 1982 zählt bis heute zu den kontrovers diskutierten deutschen WM-Erfahrungen. Nachdem der damals noch amtierende Titelträger Deutschland bei der WM 1978 in Argentinien am letzten Spieltag der Vorrunde beim torlosen Remis gegen Tunesien bereits Bekanntschaft mit einem nordafrikanischen Underdog gemacht hatte, führte das vier Jahre später nicht dazu, den Algeriern den notwendigen Respekt zu erweisen.
Bezeichnend die Aussagen von Reporter-Legende Rudi Michel, der für das TV das Match kommentierte und die Zuschauer an diversen Gedankenspielen und inneren Monologen teilnehmen ließ, u.a. amüsierte sich Michel darüber, dass Algerien zwischenzeitlich mit 3:2 nach Ecken gegen das doch übermächtige Deutschland vorne liegen sollte. Nun, nicht nur bei den Eckbällen blieb der Außenseiter erfolgreich.
Trotz des sensationellen 1:2 gegen Algerien fand die DFB-Elf noch ins Turnier und besiegte die Chilenen am zweiten Spieltag mit 4:1. Kapitän Karl-Heinz Rummenigge traf gleich dreifach, den vierten Treffer steuerte der gebürtige Essener und für Werder Bremen tätige Uwe Reinders bei. Österreich, spätestens seit der Schmach von Cordoba bei der Vorgänger WM 1978 in Argentinien eine Art Erzrivale, weil die Ösis mit einem 3:2 Sieg über Deutschland in der Zwischenrunde alle Endspielhoffnungen des damals amtierenden Weltmeisters zerstörten, schlug Algerien hingegen mit 2:0.
So gab es vor dem letzten Gruppenspieltag Spannung pur. Alle drei Teams, sowohl die ungeschlagenen Österreicher als auch die dahinter platzierten Deutschen und Algerier hätten die Plätze 1 und 2 erreichen und in die Zwischenrunde einziehen können. Dieses Format, nach der Vorrunde noch eine weitere Gruppenphase einzuziehen, gab es in dieser Form nur bei den Titelkämpfen 1974, 1978 und eben 1982. Eine Mannschaft jedoch musste auf der Strecke bleiben.
Pikant dabei, Algerien traf bereits am Donnerstag, den 24.06.1982 auf Chile, Deutschland und Österreich begegneten sich erst einen Tag später zum Nachbarduell. Die Algerier legten los wie die Feuerwehr und als die Nordafrikaner zur Pause mit 3:0 gegen die Südamerikaner in Front lagen und ihr Torverhältnis somit komfortabel gestalteten, wuchs der Druck auf die Teams aus Deutschland und Österreich. In Hälfte zwei jedoch schoss Chile noch zwei Tore und am Ende siegte Algerien nur mit 3:2. Für Deutschland bedeutete dies, dass ein Sieg im letzten Gruppenspiel absolute Pflicht und egal in welcher Höhe gleichbedeutend mit dem Gruppensieg war. Österreich hingegen konnte sich eine Niederlage mit höchstens zwei Toren Differenz leisten, um auf jeden Fall als Zweiter weiterzukommen.
Bei einer 2:5 Niederlage hätten die Regularien bei Punkt- und Torgleichheit mit Algerien ein Entscheidungsspiel der beiden Teams vorgesehen. Doch von einer solch torreichen Begegnung war man am Freitag, den 25.06.1982 in Gijón weit entfernt. Schon nach 11 Spielminuten wuchtete der bei RWE groß herausgekommene Horst Hrubesch, 1982 für den Hamburger SV aktiv, eine Flanke von Pierre Littbarski ins österreichische Tor, mehr mit dem Knie als mit dem Kopf.
Das Ergebnis reichte beiden Mannschaften, jedoch bleib die Partie zunächst noch recht temporeich. Ab Mitte der zweiten Hälfte, es war kein weiterer Treffer mehr gefallen, geschah Unfassbares. Beide Teams einigten sich auf dem Feld, die Rollen der jeweiligen Bundestrainer Jupp Derwall und seines österreichischen Pendants Georg Schmidt sind dabei nicht wirklich bekannt, auf einen Nichtangriffspakt und kickten das Ergebnis ohne einander zu attackieren über die Zeit. Bis heute spricht die Fußballwelt von der Schande von Gijón und das Image der deutschen Mannschaft war nachhaltig zerstört.
Es passte zu einer Truppe, die fußballerisch eigentlich alles hatte, um höchste Meriten zu erwerben, aber als der Inbegriff einer abgehobenen Millionärstruppe galt, für die der Zweck die Mittel heiligte und die Trainer Jupp Derwall nicht im Griff hatte. Schon die Vorbereitung am österreichischen Schluchsee offenbarte die Hilflosigkeit Häuptling Silberlockes gegenüber seiner Mannschaft. Diese feierte mehr als sie trainierte, sodass die Boulevardpresse den Schluchsee kurzerhand in Schlucksee umtaufte. Dennoch sollte Deutschland noch weit im Turnier kommen und ein legendäres Spiel gegen Frankreich im Halbfinale für sich entscheiden. Davon wird später einmal die Rede sein.
Das skandalöse Spiel Deutschland gegen Österreich führte dazu, dass seitdem die letzten Spieltage der Gruppenphase stets parallel ausgetragen werden müssen. Algeriens Torschütze zum 1:0 gegen die DFB-Elf Rabah Madjer startete nach der WM 1982, er war wie die meisten seiner Mitspieler in seinem Heimatland unter Vertrag gewesen, eine große internationale Karriere und feierte 1987 mit dem FC Porto den Gewinn des Europapokals der Landesmeister. In diesem Vorläufer der Champions League spielten tatsächlich, man glaubt es heute kaum noch, nur die jeweiligen Landesmeister.
Das Finale gewann der portugiesische Klub übrigens gegen den FC Bayern und Madjer steuerte ein legendäres Tor mit der Hacke zum zwischenzeitlichem 1:1 Ausgleich bei. Madjer sollte kurz darauf zu den Bayern wechseln und wurde bereits in Lederhosen abgelichtet. Letztlich platzte der Transfer aber. So gesehen rächte sich Madjer somit gleich zweimal stellvertretend für den deutschen Fußball an Bayern München für die Schande von Gijón.
Deutschland wiederum konnte erst 32 Jahre später Revanche an Algerien nehmen. Bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien trafen beide Teams im Achtelfinale aufeinander, am Ende stand es wiederum 2:1, aber diesmal für Deutschland. Dafür allerdings war eine Verlängerung nötig und ein Manuel Neuer im deutschen Tor, der als modern spielender Keeper immer wieder für seine überspielten Vorderleute vor der eigenen Box klären musste. Der Underdog war also erneut extrem unangenehm und bereitete dem späteren Titelträger größte Probleme.
Bis die deutsche Nationalelf zum Auftakt der WM 2018 in Russland mit 0:1 gegen Mexiko unterliegen sollte, verlor sie keine einzige der folgenden Premierenpartien. Bei der WM 1986 in Mexiko gab es zu Beginn noch ein mageres 1:1 gegen Uruguay, doch danach gewann Deutschland die Auftaktpartien der folgenden WM-Turniere allesamt und blieb so 36 Jahre lang zum Turnierauftakt unbesiegt.
Sven Meyering