Vorbericht
Trotz einer riesigen Erfolgsserie befindet sich Rot-Weiss Essen in einer psychologisch herausfordernd zu nennenden Situation. Obwohl man im Pokal gegen den übermächtig erscheinenden Konkurrenten vom Rhein keinen großen Druck verspüren dürfte, schwebt das Liga-Gipfeltreffen mit dem BVB II nur vier Tage später bereits über den Köpfen der Essener.
Das ist sportlich und mental eine große Aufgabe für das Essener Trainergespann um Christian Neidhart. Dass der Coach dafür eine Lösung finden wird, darf man nach den bisherigen RWE-Auftritten jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen.
Einige Essener Anhänger, die dem Aufstieg sicherlich nicht zu Unrecht oberste Priorität einräumen, wären fast schon bereit, das Pokalevent gegen die Werkself mit einer B-Elf auf dem Platz wegzuschenken und die Kräfte für den Ligagipfel zu schonen. Das wäre jedoch sehr schade. Und wird für RWE sicherlich auch nicht in Frage kommen. Auch wenn es einem Fußballwunder gleichkäme, will Rot-Weiss Essen Leverkusen zu Loserkusen machen. Seit 13 Jahren standen die Essener nicht mehr in einem Achtelfinale des DFB-Pokals und die Siege gegen Bielefeld und Düsseldorf haben unserer Revierperle bundesweite Aufmerksamkeit geschenkt. Nach dem Sieg gegen die Fortuna aus Düsseldorf war die Begeisterung der Anhängerschaft so groß, dass Autokorsos über die Hafenstraße fuhren und Freudenfeuerwerke gezündet wurden. Die Mannschaft wurde vom harten Kern der Fans noch hinter der Tribüne aus sicherem Abstand abgefeiert. Alles konform der Corona-Regeln, sagte die Essener Polizei. Belassen wir es dabei. Auch der wirtschaftliche Faktor für Rot-Weiss ist gigantisch. Es werden Gelder in die Vereinskassen gespült, die für das Ausbleiben von Zuschauereinnahmen zum Teil entschädigen. Von daher sollte RWE samt seiner Anhänger das Match gegen den großen Favoriten aus Leverkusen genießen und erst danach Richtung Samstag und Dortmund blicken. Einmal mehr ist die Kaderbreite dabei der Essener Trumpf. Christian Neidhart rotierte auch in den Pokalspielen gegen die anderen höherklassigen Gegner, und zwar erfolgreich, sodass auch mit Kräften ökonomisch umgegangen werden kann. Dennoch dürfte es überraschen, wenn die Säulen des Essener Erfolges, namentlich Davari im Tor, Heber und Hahn in der Abwehrzentrale, Plechaty auf Rechts, Grote und Kehl-Gomez im Zentrum und natürlich Engelmann als Regler ganz vorne, nicht auflaufen und für die Liga geschont würden. Auf den vier verbleibenden Positionen darf man Flexibilität erwarten. Da Cedric Harenbrock bei Bayer 04 ausgebildet worden ist, dürften seine Startelfchancen anstelle von Amara Condé auch nicht so schlecht stehen, zumal Harenbrock mehr Torgefahr ausströmt. Neidhart und sein Team werden das gründlich austüfteln. Dass der Trainer bereits offenlegte, die Räume für den Erstligisten sehr eng machen und gefährliche Umschaltsituationen schaffen zu wollen, dürfte aber kaum überraschend sein.
Bereits zum vierten Mal stehen sich Essen und Leverkusen im DFB-Pokal gegenüber. Die erste Partie ist pure Nostalgie. In der Adventszeit 1981 schoss der damalige Zweitligist RWE den Bundesligisten aus Leverkusen mit 4:1 aus dem Georg Melches-Stadion. Für RWE trafen Timmler, Klinger, Herget und Grillemeier. Die kommenden beiden Begegnungen verliefen für unsere Roten weniger erfolgreich. Die Partie aus dem September 2002 hat relativ wenig Erinnerungswert. Der Favorit aus Vizekusen, in diesem Jahr brachten die Bayer-Kicker es fertig, in gleich drei Wettbewerben (Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League) den zweiten Platz zu belegen, siegte mit 1:0. Das Spiel war mäßig. Das Siegtor für die Gäste erzielte der frisch gebackene brasilianische Weltmeister Lucio. Das Match wurde in der Prime-Time im TV übertragen. Möglicherweise lag das daran, dass sieben Jahre zuvor an gleicher Stelle zwischen genau diesen beiden Mannschaften ein Pokalspiel abgelaufen war, das zu den besten Partien gehörte, die wohl jemals im altehrwürdigen GMS über die Bühne gegangen waren. Die Erinnerung daran gehört im Grunde auch in die Kategorie „Weißte noch?“.
Bereits im Vorbericht auf das Erstrundenmatch gegen Bielefeld erinnerte sich Jawattdenn.de an den 04. Oktober 1995. RWE war Gastgeber im Achtelfinale. Das Stadion war bis zum Bersten gefüllt. Auch auf der Osttribüne, die damals grundsätzlich den Gästefans vorbehalten war, standen Tausende RWE-Anhänger. Der Grund, in Leverkusen war nicht gerade ein Run auf die Pokalkarten eingesetzt und die angereisten Auswärtsfans belegten nur den vom Spielfeld aus gesehenen rechten Teil der Ränge. Das musste RWE übrigens nicht persönlich nehmen. Im Jahre 2002 sollte es der Bayer-Anhang sogar fertigbringen, sein Kartenkontingent für das Champions-League-Finale gegen Real Madrid in Glasgow nicht auszuschöpfen. Was aber außergewöhnlich war und heutzutage nicht mehr vorstellbar ist, die Polizei bildete eine menschliche Absperrung zwischen den RWE- und Leverkusener Anhängern, sodass auch die eigentliche Gästetribüne gefüllt werden konnte. An solchen Abenden unter Flutlicht verströmte das Georg-Melches-Stadion ein Fußballflair, das im moderneren Stadion Essen und den meisten anderen neuen Spielstätten des deutschen Fußballs nicht erreicht werden kann. Es gab zum einen viel mehr Stehplätze und die Zuschauer waren noch enger am Spielfeld als heute. Zusammen mit dem, was die Akteure dann auf dem grünen Rasen bieten sollten, entwickelte sich ein Match und eine Atmosphäre, die jedem, der damals das Glück hatte, live dabei gewesen zu sein, noch gut ein Vierteljahrhundert später eine Gänsehautpelle nach der anderen über den Rücken jagt. Auch wenn RWE am Ende verlieren sollte.
Die Essener unterlagen jedoch einer als Starauswahl zu bezeichnenden Mannschaft von Bayer Leverkusen, die Spieler wie Bernd Schuster, Rudi Völler, Paulo Sergio und seinen Landsmann Rodrigo, Ioan Lupescu, Markus Feldhoff und Christian Wörns aufgeboten hatte, erst im Elfmeterschießen. Nach 120 Minuten hatte es sage und schreibe 4:4-Unentschieden gestanden. Übrigens auch schon nach 90 Minuten. Leverkusen führte mit 1:0, 2:1 und 4:2. RWE glich aber ein jedes Mal wieder aus. Der Treffer zum 1:1 durch Dirk Helmig zeigte Essens spielerische Klasse, denn Leverkusens Abwehr konnte bei der Kombi nur staunend Spalier stehen. Zwischendurch, beim Stande von 2:2, war Essen der Führung deutlich näher als der Gast. Es retteten der Pfosten und Keeper Dirk Heinen für den Favoriten. Leider, muss man sagen, hatte der junge RWE-Keeper Marc Petrick nicht seinen besten Tag erwischt. Insbesondere beim 2:3 durch den späteren RWE-Drei-Spiele-Trainer Holger Fach sah Petrick alt aus, als er einen nicht sonderlich platzierten Kopfball am kurzen Eck passieren ließ. Die Antworten blieb Essen aber nicht schuldig. Besondere Magie versprühte dabei der Ausgleichstreffer zum 4:4. Dazu musste eine besondere Dramaturgie her. Nach 73 Minuten schien die Vorentscheidung gefallen. Weltmeister Rudi Völler entwischte seinem ansonsten formidablen Gegenspieler Kristian Zedi und schob an dem diesmal chancenlosen Petrick vorbei zum 2:4 ein. Die Ränge reagierten mit aufmunternden Sprechchören, doch das war eher der grundsätzlichen Zufriedenheit mit dem Essener Auftritt als dem Glauben an eine nochmalige Wende geschuldet. Auch Bayer war sich nun siegessicher. Zu siegessicher. Drei Minuten später war der Wahnsinn eingetreten. Denn sowohl Dirk Helmig als auch Christian Dondera, die übrigens auch für die Tore zum 1:1 und 2:2 verantwortlich waren, machten ihr wohl bestes Spiel im RWE-Trikot. Und das, obwohl insbesondere Essens Eigengewächs Putsche Helmig viele sehr gute Partien in seinen langen RWE-Jahren gezeigt hatte. Neben zwei Toren und etlichen tollen Aktionen verpasste Helmig Weltstar Bernd Schuster auch noch einen gekonnten Beinschuss. Dondera war sogar zunächst nur Ersatz gewesen und eingewechselt worden, weil sich Mittelstürmer Markus Wuckel einen Muskelfaserriss bei einem verunglückten Distanzschuss zugezogen hatte. Nun führten beide Akteure Regie bei einem Glanzstück. Im direkten Gegenzug nach Tante Käthes Treffer schlug Christian Dondera einen galanten Haken um seinen hüftsteif wirkenden Gegenspieler Markus Happe und traf zum sofortigen Anschlusstor. Es wurde laut, sehr laut, doch dann explodierten die Ränge auf eine Art und Weise, die man als pure Ekstase charakterisieren kann. Zwei Minuten nach Donderas Treffer hatte RWE einen Leverkusener Angriff abgefangen und trieb die Kugel energisch in Richtung des Tores von Dirk Heinen. Der Ball landete auf dem linken Flügel bei Grein. Der als Haken-Olli bekannte Dribbelkünstler schien sich zunächst im Duell mit seinem Gegenspieler verzettelt zu haben, brachte den Ball dann aber dennoch in die Mitte. Dort leistete sich die Bayer-Abwehr ein Festival an Stellungsfehlern und nur eine Person stand goldrichtig. Dirk „Putsche“ Helmig, nicht gerade groß gewachsen, erwischte die Kugel per Kopf, die sich dann ins lange Eck senkte. Es folgte ein Torjubel, der seinesgleichen suchte, akustisch explodierte das altehrwürdige Georg-Melches-Stadion beinahe und die sprichwörtlich wildfremden Menschen lagen sich ungläubig jubelnd in den Armen. Viele wären wohl in einer Jubeltraube zu Boden gegangen, hätte es die Enge auf den Rängen zugelassen. Bernd Schuster stand nach dem 4:4 jedenfalls mit Händen in den Hüften am Mittelkreis und betrachtete konsterniert und ein wenig ehrfürchtig die ausflippende Nordtribüne.
Bis zum Ende der regulären Spielzeit und auch in der Verlängerung beruhigte sich das Spiel dann paradoxerweise etwas. Es gab keine echten Höhepunkte mehr. So musste die Lotterie vom Punkt entscheiden.
Pünktlich zum Elferschießen setzte dann Starkregen ein, der RWE offenbar aus dem Konzept brachte. Leverkusen verwandelte alle seine 4 Strafstöße, Essen nur einen einzigen, sodass das kuriose Endresultat von 5:8 entstand. Als nette Schmunzel-Anekdote darf noch erzählt werden, dass RWE an diesem Abend gemeinsam mit Leverkusen nicht nur ein Feuerwerk auf dem Platz abgebrannt hatte, sondern die Essener Verantwortlichen es für eine gute Idee gehalten hatten, vor Spielbeginn hinter der ehemaligen Westtribüne auch ein reales Feuerwerk zu zünden. ZDF-Reporter Rolf Töpperwien bilanzierte, eine solche Begrüßung in seiner Reporterlaufbahn außer im Aztekenstadion von Mexiko City noch nicht erlebt zu haben. Ob wirklich als Folge davon gleich zwei der Flutlichtmasten in der ersten Halbzeit vorübergehend ausfielen, wie Töppi mutmaßte, oder das andere Ursachen hatte, ist nicht bekannt. Jedenfalls stand zunächst der Himmel in Flammen, dann der Platz im Halbdunkeln, sodass die Akteure das doch so sehenswerte Spiel einige Minuten unter Schummerbeleuchtung absolvierten. Bei einem der Flutlichtmasten handelte es sich übrigens um das noch heute auf dem Stadionvorplatz zu besichtigende Relikt der alten Flutlichtanlage, bekanntlich eine der ersten in Deutschland überhaupt. Reporter-Legende Töppi würzte seine Reportage mit vielen Bonmots und Kuriositäten. Eine davon war, dass er Kristian Zedi zum RWE-Kapitän, das war in Wirklichkeit Ingo Pickenäcker, und zum hauptberuflichen Produzenten von Disco-Platten stempelte, was Zedi ebenfalls nicht war und zudem wild die Vornamen der RWE-Kicker durcheinanderwürfelte. Töppi kreierte die Georg-Melches-Straße und sagte allerdings zu Recht, dass man sein eigenes Wort nicht verstehen könne, da die Zuschauer ständig auf 180 gewesen seien. Der Kultreporter war so vom Spiel mitgerissen worden, dass er es auch begeistert wie ein Fußballfan kommentierte. Auch der Mann am Mikro bereicherte diesen Abend, auch wenn die Stadionbesucher erst später in den Genuss der Reportage kommen konnten. Diese Partie und die vielen kleinen und großen Geschichten darum blieben bis heute unvergessen.
Wie unvergesslich wird die Partie zwischen RWE und Bayer Leverkusen, die erneut ein Achtelfinale darstellen wird, am kommenden Dienstagabend? Klar, die Zuschauer fehlen diesmal im Stadion und sitzen vor dem Livestream, was eine gänzlich andere Atmosphäre bewirken wird. Eine Premiere bei einem RWE-Spiel wird der Video Assistent Referee, kurz VAR, feiern. Dieser kommt ab dem Achtelfinale im DFB-Pokal zum Einsatz. Aus dem Ligaalltag kennen die Essener das nicht. Nach Toren und strittigen Szenen wird das nun möglicherweise eine Zeit des Zitterns bis zur endgültigen Entscheidung auslösen. Und sonst? Bei der Auslosung des Achtelfinales, die Lose zog Ex-Skisprungstar Sven Hannawald, war RWE-Trainer Christian Neidhart live zugeschaltet. Man sah ihm an, dass das Los, gegen den Sieger der Partie zwischen Leverkusen und Frankfurt antreten zu müssen, nicht sonderlich begeisterte. RWE hatte sich ein „machbareres“ Los gewünscht. Aber man muss es nehmen, wie es kommt. Bayer 04 hat im Jahre 2021 einen mindestens so guten, wenn nicht noch besseren Kader als es 1995 hatte. Vor allem das Tempo, das einige Akteure der Werkself draufhaben, exemplarisch genannt seien hier Leon Bailey und Moussa Diaby ist atemberaubend, weniger für sie selbst, als für den Gegner. Essen wird vor allem auf den Außenbahnen hier größte Konzentration an den Tag legen müssen. Mittelfeldjuwel Florian Wirtz (17) gilt am Rhein bereits als die Antwort auf den Weggang auf Kai Havertz. Leverkusen ist ein Starensemble, gegen das RWE eigentlich keine Chance hat. Wirklich nicht?
Spricht man traditionell eher vom 1.FC Köln, wenn die launische Diva vom Rhein genannt wird, so gilt das längst auch für Bayer Leverkusen. Obwohl der Kader individuelle Extraklasse darstellt, ruft Bayer 04 diese längst nicht immer ab und die Leistungen sind nicht wirklich konstant. Blieb Leverkusen in den ersten 13 Bundesligapartien ungeschlagen, so verloren die Mannen von Trainer Peter Bosz 5 der letzten 7 Partien in der Eliteliga. Das Selbstvertrauen der Spieler ist dennoch hoch, wenn es nach Essen geht. Ein Stolpern oder gar Scheitern mag man sich nicht vorstellen. Zugegeben, die Reporter von Sky forderten diese Aussagen heraus, als sie in Interviews nach dem Leverkusener Pokalerfolg gegen Frankfurt eine Niederlage bei einem Regionalligisten als quasi unmöglich darstellten. Der Erste, der in die Reporterfalle tappte, war Keeper Lukas Hradecky, der von einem Glückslos für Bayer sprach. Nadiem Amiri setzte noch einen drauf und sagte, man wolle Essen weghauen. Das wird Amiri persönlich aber nicht können, denn er befindet sich seit Donnerstag in Corona-Quarantäne und fehlt ebenso wie Abwehrchef und Nationalspieler Jonathan Tah, der eine Rotsperre absitzen muss. Möglicherweise wird Neidhart diese Aussagen aber dennoch als Motivationskick an die Essener Kabinenwände hängen. Sein Gegenüber Peter Bosz war da diplomatisch vorsichtiger und betonte, dass man auch als Leverkusen in Essen aufpassen müsse. Finden wir auch.
Uns allen ist klar, dass es normalerweise nur um die Höhe des Leverkusener Erfolges gehen dürfte. Aber was ist derzeit schon normal? Essener Erfolge sind jedoch durchaus eine Konstante in einer Zeit der Ungewissheit. Am Spieltag, dem 02.02.2021 ist Rot-Weiss Essen seit einem Jahr und einem Tag ungeschlagen. Warum sollte sich das nicht auch gegen Leverkusen fortsetzen? Sascha Mölders twitterte nach dem Pokalaus der großen Bayern bei Holstein Kiel jedenfalls schon, dass der Weg zum Titel für seinen RWE nun frei sei.
NUR DER RWE!
Sven Meyering
Spielbericht
Essen, Hafenstraße 97 A, 21:03 Uhr MEZ. RWE Schlussmann Daniel Davari liegt der Länge nach am Boden, den Kopf im Rasen und in den Händen vergraben. Die Emotionen hatten Essens besten Spieler an diesem Abend schlichtweg überwältigt. Ja, es ist wahr! Rot-Weiss Essen steht im Viertelfinale des DFB-Pokals. RWE hat den Megafavoriten Bayer Leverkusen niedergerungen. Mit einer Dramaturgie, die Hollywood alle Ehre gemacht hätte. Was die einzig wahren Roten und der VAR in den Schlussminuten boten, war der pure Wahnsinn, dem pure ekstatische Freude folgte. Gefühlt ganz Essen war anschließend auf Rädern, Autokorsos fluteten die Straßen der Stadt an zentralen Plätzen. Essen ist stolz auf seinen bekanntesten Verein. Und das vollkommen zu Recht.
In der regulären Spielzeit waren keine Tore gefallen. Viermal traf Bayer Leverkusen nur den Pfosten, deutlich häufiger stand ihnen Daniel Davari im Weg. Der Bundesligist hatte 27 Torschüsse zu verzeichnen, darunter nicht wenige Hochkaräter. Doch nur ein einziges Mal trafen die großen Favoriten. Nachdem die reguläre Spielzeit keine Tore erbracht hatte, war es Leon Bailey, der fast mit dem Ende der ersten Hälfte der Verlängerung den Ball an Davari vorbei ins lange Eck schob. Dennis Grote war nicht schnell genug herausgerückt, sodass sich der jamaikanische Flügelflitzer sehr frei vor dem Tor befand. Nachdem die Essener zunächst heldenhaft verteidigt hatten, war das im Grunde der entscheidende Nackenschlag. Pustekuchen! Christian Neidhart brachte für die zweite Hälfte der Extratime Cedric Harenbrock und Marcel Platzek für den von Krämpfen geschüttelten RWE-Kapitän Marco Kehl-Gomez und Sandro Plechaty. Essen, das bislang große Probleme hatte, offensive Gefahr auszustrahlen und zu großen Teilen mit dem Verteidigen beschäftigt war, agierte nun mit dem Mute der Verzweiflung nach vorne. Eine Dynamik, wie sie nur der Fußball kennt. In dem Moment, wo RWE absolut nix mehr zu verlieren hatte, setzte es den Leverkusenern das Messer an die Kehle und stach unbarmherzig zu. Nach 108 Minuten zog Marcel Platzek vom 16er beherzt ab. Der Ball war nicht sonderlich platziert, aber offenbar hart. Denn Keeper Lukas Hradecky, derselbe Hradecky, der RWE zuvor noch als Glückslos bezeichnet hatte, ließ den Ball nach links prallen. Dort stand Oğuzhan Kefkir, nach gut einer Stunde für Conde gekommen, und beförderte die Kugel in die Maschen. Es war klar kein Abseits und der VAR wurde vorerst nicht benötigt.
Diese starke RWE-Reaktion schockte den Favoriten. Dieser brachte nur noch eine gefährliche Situation zustande, die allerdings die sensationelle Wende perfekt machte. Der eingewechselte Frimpong wollte nach 117 Minuten einem Ball im Essener Strafraum nachsetzen, doch der war zu weit und Davari eroberte das Leder. Ebenso wie Cedric Harenbrock kurz darauf das Leder in einer für Leverkusen gefährlichen Zone von Aranguiz eroberte und die Kugel perfekt in die Gasse spielte. In diese war Simon Engelmann eingelaufen, der das Leder noch kurz mitnahm und dann humorlos leicht rechts vom Tor versetzt in den Leverkusener Kasten abschloss, und zwar mit seinem rechten Fuß, mit dem er eher selten trifft. Die totale Ekstase brach aus, ganz Essen brüllte vor Begeisterung wie am Spieß. Doch es sollte noch ein besonderes Bonbon verabreicht werden. Wir erinnern uns, in der Szene zuvor konnte Leverkusens Frimpong den Ball nicht im Essener Strafraum erreichen. Felix Herzenbruch hatte den Leverkusener am Trikot berührt und leicht festgehalten. Also bat der VAR Tobias Reichel den Schiedsrichter Daniel Schlager an den Videomonitor. Schlager sollte prüfen, ob Herzenbruch Frimpong gefoult hatte. Dann hätte es tatsächlich nicht 2:1 für RWE gestanden, sondern Leverkusen hätte beim Stande von 1:1 einen Elfmeter bekommen! Wir hatten es im Vorbericht erwähnt, der VAR feierte Premiere bei einem RWE-Spiel, was dazu führen kann, dass nach erzielten Toren bis zur Anerkennung noch gezittert werden darf. Aber ganz ehrlich, eine derartige Szene, in der es nicht nur um einen eigenen Treffer, sondern zugleich um einen gegnerischen Elfmeter geht, hatte man sich dabei nicht ausgemalt. Schiri Schlager entschied, dass Herzenbruch nur leicht und kurz gezupft hatte. Korrekt. Kein Elfer, sondern 2:1 für RWE! Wahnsinn.
In der ersten Halbzeit hätte es übrigens einen Platzverweis gegen Leverkusens Innenverteidiger Fosu-Mensah geben müssen. Grote hatte den Ball perfekt in die Schnittstelle gespielt, Engelmann wäre frei durch gewesen, wurde aber von Fosu-Mensah gehalten und umgerissen. Diese Aktion war deutlich klarer als die von Herzenbruch gegen Frimpong, ohne aber dass der VAR eingegriffen hätte. Womöglich unterstützte dies Schlagers Entscheidung kurz vor Schluss. Im Anschluss musste RWE noch drei Minuten zittern, der Gast hatte aber keinen Torabschluss mehr. Mit Schlagers Schlusspfiff brachen alle Dämme. RWE bleibt tatsächlich weiterhin ungeschlagen. Die nackten Zahlen besagen, 25 Spiele in der Regionalliga West (22) und dem DFB Pokal (3) wurde Essen unter Christian Neidhart nicht besiegt. Was ist sonst noch sagenswert? RWE überragte als Mannschaft, herausragend Torhüter Daniel „Diva“ Davari und Innenverteidiger Daniel Heber, der auch gegen Leverkusens Premiumstürmer seine Zweikämpfe gewann. Toll der Auftritt der Spieler, die sonst nicht immer im Fokus stehen. Felix Herzenbruch spielt wenig in der Liga, aber überragend stabil gegen Leverkusen. Auch Jonas Hildebrandt und Jan Neuwirt kamen im Laufe der Partie ins Spiel und überzeugten vollauf, und zwar ohne nennenswerte Wettkampfpraxis. Überhaupt kam der Sieg von der Bank. Kefkir drückte diese zunächst und war danach nicht nur wegen seines Ausgleichstreffers ein Aktivposten. Platzek und Harenbrock kamen erst in der zweiten Hälfte der Verlängerung und waren an beiden RWE-Treffern beteiligt. Wie Harenbrock rotzfrech vor dem 2:1 aufspielte war großes Kino und zeigt, warum RWE sein Mittelfeldjuwel auch nach zwei Kreuzbandrissen gehalten hat.
Am Samstag kommt der BVB zum Regionalligaspitzenspiel nach Essen. Dieses Match ist für viele Anhänger noch wichtiger als der Pokaltriumph. Vorerst gibt es aber pure Freude über das Wunder von Essen, zu dem auch Weltmeister Bastian Schweinsteiger als TV-Experte gratulierte. Moderator Matthias Opdenhövel brachte es dann auf den Punkt. Nach den Siegen über Bielefeld und Leverkusen hat unser RWE in dieser Saison mehr Siege gegen Bundesligisten als ein Stadtteilverein aus Gelsenkirchen. Wäre Stolz in Wassermolekülen zu messen, wäre Essen jetzt gerade der Pazifische Ozean.
NUR DER RWE
Sven Meyering
Fotos by M.E.
Videos
Sky Sport: https://www.youtube.com/watch?v=bUjzBfmIUL4